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Oktober 2000
Heimflug

“Fliegen Sie nach Hause oder von zu Hause?” fragt die freundliche Flugbegleiterin, als sie Annas Zeitungen sieht. Da ist einmal “DIE ZEIT”, mit der Literaturbeilage, als auch die gestrige Ausgabe der “Globe and Mail”.

“Beides,” sagt Anna achselzuckend und lacht ein bisschen.

Air Canada hat sie in die Business Class gesetzt, ein heute im Ruhestand nicht selbstverständlicher Luxus.

Hier kommt nun das vertraute Tablett mit Orangensaft, Sekt und halb- und- halb. Anna entscheidet sich gegen den Sekt. Sie ist so müde, er würde sie heute nicht aufmöbeln. Der Orangensaft ist frisch gepresst.

Als das Flugzeug zur Startbahn rollt, bemerkt Anna, dass der Platz neben ihr frei geblieben ist. Sie blickt aus dem Fenster, sieht zu, wie die appetitlichen langen Felder in grün, braun und ocker immer kleiner werden, die weissen Stuckhäuser den Bauernhöfen weichen, die Landstrassen mit winzigen Wagen, die emsig entlangrasen, und dann biegt sich die gesamte Landschaft mit Dorf und Kirchturm steil nach oben und verschwindet, während weisse Wolkenfetzen gegen die Fenster wehen.

Warum ist sie so traurig? Sie schliesst die Augen vor dem grellen Sonnenlicht und zieht den Abdunkelungsschirm herunter.

Ein Nickerchen wäre sehr willkommen, aber…

“Also sag mir mal, warum verlässt du Deutschland denn wieder?” fragt Christian.

Die Flugbegleiterin hat Anna sanft an der Schulter berührt und reicht ihr nun das dampfende Gesichtstuch.

“Danke,” murmelt Anna. “Das für den jungen Mann hier können sie da liegen lassen. Er wird eben mal zur Toilette gegangen sein.” Vorsichtig tupft sie Gesicht und Hände mit dem heissen Tuch. Wie schnell doch die Luft in der Kabine austrocknet. Sie giesst etwas Mineralwasser aus der Flasche und trinkt ein paar Schluck.

Da kommen sie schon mit der Mini-Bar. Einen Aperitif? Wie wär’s mit einem Cocktail? Rot oder Weisswein zum Lunch, einen Zinfandel, oder hätten Sie jetzt gern einen Sekt?

Anna hat die Reisesocken übergezogen und geht zum Waschraum. Kämmt sich das Haar und reibt Lotion in die Hände.

Dann liest sie das Menu. Draussen steht der Himmel still, ihr Flugzeug wie irgendein Gerät reglos im Raum. Aber hier sitzen zwei Passagiere, die angestrengt ihre Laptops bearbeiten, andere, ihren Kopfhörern hingegeben, sehen Nachrichten oder einen Film.

“Guten Appetit,” sagt die Flugbegleiterin freundlich.

Nach dem Essen sieht Anna die Filmangebote durch, aber zwei hat sie schon gesehen und ist an den anderen nicht interessiert. Sie ist zu müde. Es war zu intensiv die letzten Tage, dauernd enger Kontakt mit immer neuen Menschen, und ein Haufen von Eindrücken — und herzliche Zuwendung, Liebe. Sie schiebt die Rückenlehne zurück.

“Christian, wo warst du? Du hast das Mittagessen verpasst! Aber ich konnte dich nirgends finden.”

“Na, ich war oben bei Tom und Rudi, soll dich schön grüssen.”

“Rudi? Kenne ich den? War er auch bei uns?”

“Natürlich kennst du ihn. Weisste wirklich nicht mehr? So’n kleiner Blonder mit grossen Ohren. War immer frech, musste unbedingt seine Dresche haben. Nein?”

“Nein, Christian. In welcher Baracke war er denn?”

“Drei, glaube ich. Er war nicht aus Berlin. Pass mal auf, gib mir mal das Papierchen da, unter dem Glas. Ich mach’n Schnellportrait.” Anna reicht ihm eine Miniserviette.

“Hast du ‘nen Füller? Ich mach das.”

“Hier, nimm diesen. Jetzt bin ich mal gespannt,” sagt Anna.

“Ach natürlich! Wie konnte ich den Kindskopp vergessen, einer von Karls Kumpels, stimmt’s? Hast du gesagt, er ist hinten mit Tom? Können sie nicht herkommen und wenigstens schnell guten Tag sagen, oder sollen wir mal hin? Ich möchte sie so gern sehen!”

“Ja, das hat ja Zeit. Lass uns später-”

“Du hast mir nicht gesagt, ob du Zeichner geworden bist oder was?”

“Wie meinst du -?”

Anna wartet, will ihn nicht bedrängen.

“Na, wir fanden alle du warst so toll begabt. Was machst du denn nun ?”

“Na, wir fliegen viel rum. Kommen überall hin. Du?”

“Also, ich komme natürlich nicht oft hier herüber, aber ich habe grade unser Stolper Feld wiedergesehen, bin nach all den Jahren da rumgelaufen. Ich muss, glaube ich, die Suche nach den Gräbern aufgeben. Es gibt einfach keine. Aber ich hatte gehofft, die Namenslisten zu finden, damit wir uns richtig erinnern können, weisst du? Ich kann ja nicht mal mehr sagen, wer die Berliner Jungen waren. Wir haben Lotte und Walla längst aus den Augen verloren, und Lilly ist schon lange tot.”

“Ja, ich weiss. Bei den Berliner Jungens könntest du mit den drei Joachims anfangen, zwei aus Plumpe. Kennste die noch?”

“Nee. Doch! Haben wir nicht einen Jochen genannt?”

“Na siehste. Weisste noch, wie der aussah?”

“Nee, ich weiss bloss noch wie ihr alle zusammen mit Motz und Ede über die Felder gekommen seid, gewitzelt habt, ihr wärt ‘die Namenlosen’, und heute sieht’s ja so aus, als ob viele von euch das zum Schluss geblieben sind.”

“Ja.” Christian sieht sie unter der Decke hervor an. “Haben sie was dazu gelernt, Anna? Ist es eine bessere Welt geworden, für die Kinder? Sicherer, zuverlässiger, meine ich. Hast du Vertrauen in eure Zukunft?”

“Tja, das ist eine riesengrosse Frage, Christian. Einerseits hat sich schon viel gebessert. Überall auf der Welt wissen die Menschen besser Bescheid, haben Zugang zu Informationen aller Art, gute und schlechte. Aber wir machen weiter die alten Fehler. Trotzdem, ja, ich habe Vertrauen in die Zukunft. Es wird alles gelöst – da bin ich sicher. Und du?”

“Nein, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ich etwas daran hätte ändern können, zum guten Schluss. Oder Tom oder Ede. Meine Zeichnungen, all die Schweinchen mit den graden Schwänzen und meine Kinder, die auf den Händen liefen, was für’ne Protesthaltung is’n das? Ich wollte doch nichts verändern, hab doch nur Quatsch gemacht. N’ Witz, so rumggespielt.”

Die Flugbegleiterin legt den Duty- Free Katalog auf Annas Schoss. Die nimmt jetzt einen Schluck aus der Wasserflasche und noch einen, und blättert dann auf der Suche nach etwas Originellem. Sie sieht nichts das sie verschenken möchte, und der Wagen mit den Schätzen rollt weiter.

Der junge Mann auf dem Sitz vor ihr sieht einen Film mit Mega-Krise: Tod und Verderben prasseln auf einen Raum voller ahnungslos arbeitender Männer und Frauen, die nun aufschrecken, und ein befremdlich kostümierter Held, aus beiden Hüften ballernd, erscheint unvermittelt auf der Szene. Die alte Masche, nur sehen die Retter immer erschreckender aus.

“Christian? Christian, was machst du denn da neben dem Mann? Mit dem schauerlichen Film?”

“Du, lass man, hast du eben die Szene gesehen, mit diesem riesigen POOOOWWW im Hintergrund? Also diese technischen Details, was die da heute mit Computern machen, das ist doch Sensation !”

“Ja, das stimmt schon. Was weisst du denn über Computer?”

“Na hör mal, jeder zweite Typ, der hier reinkommt, trägt so’n flachen Kasten und klappt den gleich auf.”

“Lap-Tops, ja, und?”

“Naja, die Technologie ist offenbar in die Stratosphäre, völlig verrückt geworden. Diese Flieger. Wir sind mit der Concorde nach Paris, aber Tom hat die 747 am liebsten. Mehr Platz.”

“Ja, Christian. Das ist so schön, so grossartig, dir hier zu begegnen. So eine Freude! Ich fliege mindestens einmal im Jahr nach Deutschland, und jetzt, nach all den Jahren - was für eine riesengrosse Freude!”

“Ja. Du, was ich dir sagen wollte. All die Sachen, worüber du mit Fritze geredet hast? Von damals das alles? Und wie du mit deiner Freundin und ihren Hunden auf dem alten Feld warst? Lass es, Anna. Such nicht mehr weiter. Da sind wir ja nicht. Wir gehen da nicht mehr hin. Wir fliegen da hin, wo wir wollen, wo ihr noch über uns redet, euch erinnert. Es geht uns gut, Anna. Echt, weisst du, was ich meine? Verstehst du?”

“Naja, ich höre zu. Es klingt so—”

“So gut. Es klingt gut. Und es ist alles gut.” Er hält einen Moment inne. “Werden sie es irgendwann hinkriegen, Anna? Echten Frieden? Was denken sie bei euch in Kanada zu dem Thema?”

“In meinen Kanada mühen sie sich immer wieder ad, anders wo Frieden zu stiften. Das kostet gedult und opfer. Das projekt ‘ewiger Frieden’ ist noch lange nicht komplett — das Thema Nr. 1 in Stolpe. Ich denke wir werden es am Ende schaffen weil es keine Alternativen mehr gibt. Und wir schaffen es auch.”

“Du, das werde ich den Anderen sagen! Ihr wisst ja, wir passen auf. Ich muss jetzt gehen, aber bis bald.”

“Christian! Sag Tom, dass wir, dass wir natürlich nie aufgeben.

Die Schotten haben ein altes Sprichwort: ES GIBT KEINE FREMDEN, NUR FREUNDE, DIE MAN ERST NOCH KENNEN LERNT.”

Die Flugbegleiterin berührt Annas Hand.

“Es tut mir leid, sie zu wecken.”

“Oh, ich habe gar nicht geschlafen,” sagt Anna, “ich habe mit einem alten Freund hier gesprochen.”

Auf dem Nebensitz liegt nur die verbeulte Decke.

Die junge Dame lächelt verständnisvoll.

“Wir landen in etwa einer Stunde. Hätten sie jetzt vielleicht doch gern einen Kaffee?” “Ja, danke.”

Anna läuft mit Aktentasche und Handgepäck schon durch den Gang, da fällt ihr Christians Zeichnung wieder ein. Sie dreht um und geht wieder hinein zu ihrem Platz.

“Haben sie etwas vergessen? Kann ich ihnen behilflich sein?” fragt die Flugbegleiterin.

“Ach, es war eine Karikatur, auf einer kleinen Papierserviette , die mein Freund für mich gemacht hat. Ich dachte, sie wäre vielleicht auf den Boden gefallen, aber es ist nichts mehr da, schon aufgeräumt,” sagt Anna und läuft langsam dem Ausgang zu.

Die Kinder sind gekommen, sie abzuholen, eine Überraschung ! Sie sind aus Kuba zurück. Emily mit Blumen.

“Welcome Home, Ami,” steht auf dem handgemalten bunten Schildchen in der Hand ihrer Enkelin. Sie auf Anthony’s Schultern in ihrem ‘World Wildlife’ T-shirt.

Welcome Home!