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Oktober 2000
Hannover

In der Nähe des Hauptbahnhofs hat Anna einen Blumenladen entdeckt und kommt jetzt mit einem Mini-Rosenstöckchen heraus. Werner und Lydia, Ostberliner Freunde aus der Zeit nach der Wende, waren eigentlich unterwegs nach Italien. Sie sind 150 km Umweg gefahren um sich mit Anna zu treffen und fahren sie nun zum Friedhof in Engesohde. Auf dem Weg zum Hauptbahnhof sind sie sogar vorher ausgestiegen und haben schonmal Ausschau gehalten, wo etwa das Grab zu finden sei.

Stumm fahren sie nun hin und parken. Es sei ein grosses Familiengrab mit einem Anker auf dem alten Stein, hatten die Schwestern gesagt, an der Maschseeseite. Die Luft ist schon herbstlich, als sie an den langen Reihen alter Gräber vorbeigehen. Werner ist etwas vorausgegangen, und er hat das Grab gefunden. Opa war 1937 schon gestorben, und Grossmama hatte damals darauf bestanden das Familiengrab müsse am Maschsee liegen.

Werner hat den kleinen Reisespaten aus dem Kofferraum geholt und eine grosse Wasserflasche. Anna pflanzt die Winzrose zwischen die glänzenden Blätter des Efeus, an einem Platz der für genügend Sonne sorgt. Dann leeren sie die Flasche Wasser über die weiche Erde. Werner macht ein Foto vom Grab, ein weiteres mit Anna davor, die leere Flasche in der Hand. Lydia nimmt sie in den Arm, und dann gehen die beiden ein paar Minuten spazieren, während Anna allein am Grab bleibt. Als sie zum Wagen zurückkehren, erinnert sich Anna, dass Lydia ihre eigene Mutter unter sehr harten Umständen früh verloren hat.

Nun sitzen sie und Werner mit Anna in einem wunderschönen Café, wo sie sie zu Kaffee und Kuchen eingeladen haben. Und Lydia hört zu während Anna redet und redet, Werner ihnen gegenüber, seine Cocker-Spaniel Kummerfalten auf der Stirn, und ihr diese Stunde gönnt. Und Anna müht sich, diesem riesigen Leben der Mutter gerecht zu werden.

War Anna von allen guten Geistern verlassen, zu meinen, sie könne diese Fahrt allein zustande bringen? Werner und Lydia hatten am Telefon nichts dergleichen verlauten lassen, nur darauf bestanden, dass sie sich sehen. Hannover wäre doch günstig.

Anna hält im Redestrom inne.

“Fahrt ihr eigentlich auch nach Florenz? Und wenn, wisst ihr schon, wo ihr übernachtet? Habt ihr Lust auf ein Hotel, das schon in sich ein Schatzkästchen ist? Ich weiss die Adresse nicht mehr, aber es ist in einer engen Gasse mit Kopfsteinpflaster. Sie malt ihnen eine kleine Karte auf die Serviette. Fragt halt, jeder da wird’s kennen.” Werner notiert sich das.

Später tragen sie Annas Koffer hinauf zum Bahnsteig und winken bis der Zug um die Kurve fährt.

Anna denkt wieder daran, wie überrascht und dankbar sie ist, so spät in ihrem Leben noch so enge Freundschaften zu schliessen.

Frank, Helga und Anna gehen Stolper Feldwege entlang, wo Landwirte und ihre Familien seit Hunderten von Jahren den Boden bewirtschaftet haben, wenn auch freilich Land im Besitz der Fürsten von Donnersmarck, die bis zum ersten Weltkrieg in den dichten Wäldern hier herum den letzten Kaiser Wilhelm und Herren des Hofstaates zur Jagd einzuladen pflegten.

Um 1910 mussten hier die Bäume der neugeplanten Gartenstadt weichen.

Sie stehen an einer langen Reihe dürftiger, aber sauber gehaltener Gräber. Es ist Annas zweiter Friedhofsbesuch in diesen Tagen. Einige der Holzkreuze enthalten Namen und sogar Rang der Gefallenen. Ja, dieses sind die Gruftstätten von 1945, und nein, die Jungen sind nicht hier zu finden.

Friedhelm Dahme, 7.12.1928, Gerhard Dietmar, Joseph Dziubang, Felix Horst, Peter Kirchhoff, 11.2.28, Siegfried Kunzmann, 26.3.1927, Erich Lonitz, Karl-Heinz Mueller, 13.8.1926, Sigrid Neubauer, 7.10.1931, Hans-Georg Neubert, 14.9.1935, Van Horn, Mathe, 5.7.1924, Jacob Wagner, Karl Wenzel, 23.10.1929, Ottomar Zimmermann, 5.4.1930, Klaus Neubert, 14.9.1939, Horst Alfred Noleppa, 18.4.1930, Erhard Papst, William Reinhardt, Franz Josef Riether, 1.11.1927, Hans Rost, Franz Schmiedl, 14.11.1927, Joseph Schmitt, Horst Schumann, Ludwig Strasser, Strobel Gottfried Tuss.

Nun wollen sie noch dem russischen Soldatenfriedhof im Ort einen Besuch abstatten, im Hennigsdorfer Rathenaupark. Der Gedenkstein enthüllt ihre Namen in lateinischen Buchstaben:

Tschebotar, Iwanjow, Klitschew, Karplenko, Ergatow, Sidjakow, Omarow, Koslow, Murasch. Und hier die Offiziere, Amfredow, Rutwerg, Malkow, Abdulajew, Krilow, Kosjupow, Erelkin, Diwinskii.

Eine Mutter sei aus Russland gekommen, so berichtet Frank, um das Grab ihres Sohnes zu suchen, und sie habe es hier gefunden. Nur die warme Anteilnahme der Dorfbewohner hier habe ihr geholfen die schwere Reise durchzustehen, soll sie gesagt haben.

Nun sitzen sie beim Kaffee. Immer wenn sie zusammen waren, ging es um ein trauriges Thema. Die Gespräche bewegten sich mindestens am Rande der neueren oder ferneren Zeitgeschichte. Nun sagt Helga,

“Sie haben eigentlich sehr wenig aus Kanada erzählt. Wir interessieren uns doch dafür, wie es bei Ihnen da drüben so aussieht. Warum Sie dort leben.”

Anna ist nicht auf die Frage vorbereitet und muss erst nachdenken.

“Sie möchten hören, wie Kanadier so sind. Darüber grübeln sie auch selber immer nach. In den fünfundvierzig Jahren in denen ich schon da lebe haben sie es noch nicht ganz geschafft, so scheints, sich zu definieren, ausser den Frankokanadiern. Die wissen genau wer sie sind.

Ein sehr beliebter Autor, Pierre Berton, hat mal formuliert ein Kanadier sei einer der es vermag, den Liebesakt zu vollziehen ohne dass das Kanu kentert. An der Analyse ist nicht zu rütteln.”

Frank und Helga lachen.

“Das ist natürlich noch etwas unvollständig gewissermassen. Manche meinen, Kanadier seien sehr nüchterne Typen. Stimmt gar nicht, aber bevor sie einen Witz loslassen, der sich gewaschen hat, sehen sie sich erstmal nach allen Seiten um, damit sie auch niemandem zu nahe treten. Das ist schwer zu vermeiden, denn kanadische Städte wie Toronto und Montreal sind die ethnisch und kulturell gemischtesten Städte der Welt, mit einer reichen Auswahl von Glaubensstrukturen.”

“Manche der Grosstädte in Deutschland werden ja auch so, nicht?” sagt Helga und Frank nickt.

“Es ist eine gute Entwicklung, eine sehr gute Sache für die Zukunft.”

Nachts kann sie nicht schlafen. Ein Sturm ist aufgezogen. Die Schatten der hohen Tannen, die Majas Vater vor achtzig Jahren gepflanzt hat, tanzen an den Wänden. Das Meisennest, das Maja ihr gestern gezeigt hat, jedes Jahr fleissig erneuert, wird gemütlich hin und her schaukeln. Die Herbstbrut ist längst ausgeflogen. Einer der Hunde bellt im Zwinger.

Wo sind die Jungen hingekommen, wohin? Es war doch Rainer gewesen, der an der Spitze gefahren war, etwas umständlich mit all dem Gepäck, aber er fuhr allen voran, dann Toni. War’s nicht Toni? Sie hatten besprochen, die Räder eine Strecke vor den Gräben abzulegen und je zu viert weiterzugehen. War es möglich, dass die ersten Feuerstösse die Lilly und Anna hörten, diese erste Vorhut verpasst hatten? Waren einige vielleicht imstande gewesen, gleich weiterzuradeln, in westlicher Richtung, weg vom Feind? Sind sie womöglich vor der zweiten Gardepanzerarmee, die im Bogen um Berlin herumkam und dann in südlicher Richtung in die Stadt vorstiess, noch da herausgekommen? Und wieviele? Gustav und Axel waren die beiden letzten, bevor Ede, Ulli und Motz aufholen konnten. Wieviele Panzer waren da eigentlich hinzugekommen? Hatten sie nur beigedreht, als die Infantrie loslegte? Waren einige der Jungen gefangen genommen worden?

Anna und Fritze Telefonieren.

“Also Fritze, ich verstehe nicht, warum keine Spur von den Jungens zu finden ist. Sie können sich ja nicht in Luft verwandelt haben,” sagt Anna. “Doch nicht alle. Es gibt nirgends einen Anhaltspunkt.”

“Das hast du schon erzählt, als du aus Toronto angerufen hast,” sagt Fritze. “Willst du meine Meinung dazu hören?”

“Ja natürlich. Deshalb rufe ich ja an.”

“Lass es gut sein, Anna. Lass es auf sich beruhen. Zum guten Schluss spielt es doch keine Rolle mehr, oder?”

Anna hat schnell bei Eva auf Wiedersehen sagen wollen. Evas neues Buch über den Prinzen Heinrich ist soeben veröffentlicht worden, ein wohlverdienter Erfolg nach monatelanger Arbeit in Archiven und Schlössern. Zum Glück fliessend in französisch, hat sie hunderte von Briefen gesichtet und entziffern müssen, Dokumente gelesen, eingeordnet, einschlägige Literatur geprüft, aber wie sie sagt, eine Liebesmüh.

Sie haben Kaffee gekocht und sitzen im Wintergarten, reden nun zum erstenmal auch über ihre Väter. Anna hat Evas als fröhlichen älteren Herrn in Erinnerung. Er war schon zu alt, um im zweiten Weltkrieg noch eingezogen zu werden, und hatte die Einberufung zum Volkssturm in den letzten Apriltagen 1945, einfach in den Müll geworfen. Sollte sich einer bei ihm melden, würde er stumm auf seine dicke Brille deuten, und das wär’s.

Zum Glück kam niemand.

Anna ist überzeugt, dass ihr Vater seinen Krieg ganz privat gleich in den ersten drei Tagen des Polenfeldzuges verloren hat. Ein Vorfall, über den er jahrzehntelang nicht sprechen konnte, zeigte auf, dass der Feind keinesfalls nur in Polen, oder jenseits der ukrainischen Grenze zu finden war, sondern mitten in den eigenen Reihen.

Die beiden Frauen schweigen eine Weile.

“Denkst du eigentlich manchmal darüber nach,” fragt Eva, “dass für den Fall eines weiteren Krieges mit ähnlichen Vorzeichen, dein Sohn und meiner sich gegenseitig bekämpft hätten?”

“Ja, manchmal habe ich darüber nachgedacht. Auch für Hildes Sohn, mit dem Anthony als Dreijähriger im Sandkasten gespielt hat, damals, als die Mauer gebaut wurde, gilt das, aber es ist nicht geschehen und wird auch nicht passieren. Die Welt ist ein Stück weiter gekommen, wenn euch lange nicht weit genug. Wir leben in einem ständig sich weiter entwickelnden Prozess. Oder?”

Majas rötlich-graues Haar kringelt sich um ihre Ohren. Der Wind hat ihr eine verwegene Locke in die Stirn geweht. Eine Sekunde lang sieht sie aus wie die achtzehnjährige Maja, ihr ganzes, mutiges Leben noch vor sich. Sie fährt wieder mal zu schnell, heute die resolute, wenn auch im Ruhestand befindliche, Ärztin.

“Weisst du was, Anna,” sagt sie und springt energisch an der gelben Ampel auf die Bremse, “wir müssen uns ja mit den grösseren und kleineren Enttäuschungen des Lebens abfinden. Meiner Ansicht nach sind die Jungen nicht mehr zu finden, gleich, wo sie abgeblieben sind.” Sie blickt geradeaus. “Ich muss dich übrigens an deinem Flugsteig absetzen, finde heute nie einen Parkplatz. Schaffste das? Entschuldige.”

“Aber Maja, ich bitte dich. Ich bin dir so dankbar für alles. Ich ruf dich in ein paar Tagen nochmal an.”

Und sie nimmt ihre Reisetasche, schiebt sich durch die Tür und steht schon am Lufthansa Schalter.