Unter der Post, die Anna bei ihrer Rückkehr vorfindet, ist ein Schreiben der WAST-Dienststelle in Berlin. Die war grade mitten im Umzug begriffen als Anna sich mit ihren Fragen melden wollte.
Eva hat sich der Sache angenommen. Ein sehr hilfsbereiter, wenn auch nicht hoffnungsvoller junger Mann hatte sogleich am Telefon gemeint, dass wahrscheintlich keinerlei Dokumente über das kurze Dasein der hastig organisierten Volkssturmeinheit in den alten FLAK Baracken zu finden sein würden. Falls nicht volle Namen, Geburtsdaten und womöglich -orte von Wehrmachtsangehörigen bekannt wären, sei eine klare Auskunft unwahrscheinlich.
Anna hatte ihre eigenen, und Lillys Daten eingereicht und drückte den Daumen. Sie konnte sich nicht an volle Namen der Ausbilder erinnern. Schmitt, Albers und Peters nützte nichts.
Die Nachforschungen, so stand in dem freundlichen Schreiben, seien leider erfolglos geblieben. Falls keine Ausweispapiere bei den Gefallenen gefunden wurden, habe man sie vermutlich auf dem nächsten Friedhof anonym begraben.
Hellwach wegen des jet-lag sieht Anna um vier Uhr morgens ihre e-mail durch und entdeckt eine fröhliche Meldung von Frank Hornung. Er und Helga hoffen, sie habe einen guten Heimflug hinter sich. Einige e-mails weiter meldet sich Frank noch einmal. Der Pastor, auch er Mitglied der örtlichen Forschungsgruppe für Heimatgeschichte, kam mit der Nachricht, die Kirche erwäge, den Boden zu weihen, in dem im Frühjahr 1945 Selbstmörder, unbekannte Zivilisten und nicht identifizierte Militärs in Reihengräbern bestattet wurden.
Kleine Schritte, kleine Fortschritte, denkt Anna.
Gähnend wählt sie Majas Nummer.
“Was machst du denn am Telefon? Du hast im Bett zu liegen und zu schnarchen,” sagt die, gewahr, dass es bei Anna viertel vor 5 Uhr morgens ist.
“Aber ich freu mich zu hören, dass du offensichtlich heil angekommen bist.” “Wie geht’s den Hunden?” fragt Anna.
“Na, vorzüglich,” sagt Maja. “Und ich habe sehr aufregende Nachrichten für dich. Du weisst doch, dass Eva meinte, sie könnte Emmas ehemaligen Schwager auftreiben. Also, sie hat das hingekriegt und - nein, wir haben Emma noch nicht, aber wir haben die Tochter in München gefunden. Eva hat ihr eine Nachricht hinterlassen. Jetzt warten wir mal ab. Der Schwager wusste nichts Genaues, glaubte aber, dass Emma noch lebt, wieder verheiratet irgendwo. Drücken wir den Daumen.”
“Also Maja, Du hast mir gleich den ersten Tag vergoldet. Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie wichtig mir das ist. Falls Emma sich auch nur an einen dieser Namen richtig erinnert, und vielleicht sogar den Geburtstag. Es war nämlich typisch, dass so viele von uns da draussen in dem Monat Geburtstag hatten. Die WAST-Leute haben ja gesagt, wenn sie einen von uns finden könnten, wäre es vielleicht leichter, von daher nach anderen zu suchen. So funktioniert das System. Hoffentlich ruft sie zurück!”
“Genau. Aber jetzt legst du dich bitte ins Bett. Ich lasse von mir hören, sobald sich irgendwas tut.”
“Vielen, vielen Dank, Maja. Gute Nacht.”
Anna legt sich nicht wieder hin. Im Pyjama hockt sie vor dem Aktenschränkchen und zieht alte Briefschaften, Fotoalben und Familiendokumente hervor. Sie ertappt sich bei dem Gedanken: Himmel, genau das steht einmal meinen eigenen Kindern bevor, dass sie durch diesen Wust pflügen müssen, das meiste auch noch auf deutsch! Das kann ich ihnen nicht antun. Ich muss mich dem bald mal widmen. Im Moment sucht sie nach einem orangefarbenen Aktendeckel, einer dicken Mappe, die sie zuletzt beim Umzug vor vier Jahren in der Hand gehabt hat.
Unter Notizen für längst veröffentlichte Manuskripte und solche, die nie eine Druckseite zierten, hatte sie einen Umschlag entdeckt mit Zitaten, Zeitungsausschnitten, Ideen, Erinnerungsfetzen und Daten sowie kleine Skizzen, am Telefon gekrakelt. Ja, sie hatte schon einmal versucht, die Geschichte vom Stolper Feld festzuhalten, als die Kinder etwa fünf und neun Jahre alt waren, und sie erinnert sich sehr genau an ihr Scheitern, an Depressionen, die sie ein Jahr lang verfolgten. Ob unter diesen Unterlagen womöglich Hinweise zu finden waren, die ihr jetzt helfen konnten? Hatte Lilly zum Beispiel irgendwelche Erinnerungen beigetragen, bevor sie zugab, diesen schrecklichen Ort nie wieder aufsuchen zu können? Nein, Anna erinnert sich nicht, je wieder mit ihr darüber gesprochen zu haben. Nicht nach dem Besuch damals im Pfarrhaus, mit Anthony, 1961.
Anna zieht die Mappe hervor. Ja, hier sind die Unterlagen, die sie vor vier Jahren so flüchtig eingesehen hat. Sie holt die Lampe herüber und breitet alles auf dem Teppich aus. Findet sich hier etwas, das sie jetzt nicht mehr im Kopf hat? Namen? Da steht Hansi, wie konnte man ihn vergessen, aber schon der Nachname “Budigkeit” lässt sie wieder zögern. Und Hansi hiess ja Walter! Ede ist ja schon so lange tot, sie weiss nicht einmal mehr den Nachnamen. Nein, hier ist nichts von Wert, und Anna stopft den Papierwust wieder in den Umschlag zurück, beiseite für den blue box. Die Mappe wandert wieder ins Aktenschränkchen, aber dafür nimmt sie den Karton loser Fotos mit ins Wohnzimmer. Anna kocht Kaffee, und dann ordnet sie die Bilder auf dem Sofa und dem kleinen Tisch sorgfältig nach vermutlichem Datum. Was hofft sie eigentlich zu finden? Es gibt keine Fotos aus der Zeit des Stolper Feldes. Das weiss sie seit Langem. Es war keine Zeit für Kameras, und Filme waren nicht zu haben— keine Anlässe für Gruppenbilder, nichts zu feiern. Wo waren eigentlich die Kriegsberichterstatter geblieben? Sie hatten andere Sorgen. Auch in Foffies Kindheit gibt es dokumentarisch eine jahrelange Lücke, im Gegensatz zu der der Schwestern, die von Vater so liebevoll und ausführlich im Bild festgehalten wurde.
Der Tag geht in Stille vorüber. Die Freunde wähnen sie noch in Deutschland. Mittags streicht sie ein Brot mit Butter und kocht ein sehr altes Ei, noch immer im Pyjama.
Am Nachmittag klingelt das Telefon. Es ist Eva mit Emmas Nummer. Die Tochter war anfangs sehr zurückhaltend, nur zögernd bereit, die Mutter aufzustören. Emma sei kürzlich krank gewesen und sei grundsätzlich nie geneigt, über die Kriegsjahre zu sprechen. Evas Vorschlag, erst Emmas Einwilligung einzuholen, hatte der Tochter aber eingeleuchtet, und Emma hatte ja gesagt. Aber Anna möchte nicht zwischen 13 und 15 Uhr Ortszeit anrufen, und nicht nach 19 Uhr.
Anna liegt auf dem Sofa und überlegt. Da hatte es doch einen zweiten Anlauf gegeben. John hatte sie dringend ermutigt, “all das doch mal aufzuschreiben -” als sie im Kino sassen und in einer uralten deutschen Wochenschau, als Dokument eingeblendet, Hitler eine Rede hielt, laut schreiend, wie immer. Anna hatte heftig zu zittern begonnen, und John hatte wissen wollen, was Hitler denn sage.
“I don’t know,” war alles, das sie herausbringen konnte. Wie denn? Könne man die Worte nicht ausmachen? Doch schon, aber sie könne es nicht übersetzen. Sie hörte wieder die uralten Phrasen, dieselben Drohungen gegen ‘unsere Feinde’, und war doch ausserstande, ihren Verstand dazu zu zwingen, das alles ins Englische zu übertragen. Am nächsten Tag dann fielen ihr einige Dinge dazu ein.
Und sie hatte ein zweites Mal begonnen, die Geschichte der Stolper Zeit aufzuzeichnen. Nachdem sie hundert Seiten zu Papier gebracht hatte, doppelzeilig, und viele Notizen an den Rand gekritzelt, merkte sie, dass sie die wichtigsten, auch die schlimmsten Erlebnisse ausgelassen, unter den Tisch gekehrt hatte, sich drücken wollte.
Diesmal war sie bedrückt, gescheitert zu sein, aber nicht deprimiert.
Das Manuskript endete im Kamin.
“Emma! Störe ich grade? Soll ich lieber später — dein Mann sagt, du hättest lang-gelegen.”
“Nein, nein, es ist schon in Ordnung. Ich muss sowieso aufstehen. Meine Tochter hat mich ja darauf vorbereitet, dass du anrufen würdest. Anna, ich muss dir allerdings gestehen, ich kann mich nicht an dein Gesicht erinnern. Nur dein Name ist mir noch geläufig. Tut mir leid.”
“Aber das macht doch nichts, Emma. Es ist ja schon so lange her. Wir haben uns nicht gesehen oder gesprochen seit Ende April 1945. Ich hatte nur mal von Eva oder Maja gehört, dass du früh geheiratet hast und weggezogen bist.”
“Ja. War’s im April ’45? So spät? Ich erinnere mich natürlich an Eva. Sie hat ja bei mir um die Ecke gewohnt. Wir sind uns auch noch manchmal begegnet nachdem ich in die Stadt gezogen bin.”
Sie spricht leise. Es ist nicht die Stimme der alten Emma. Diese saloppe, optimistische, furchtlose Stimme von damals. Anna fürchtet, sie womöglich zu ermüden oder zu verstören.
“Erzähl mir von dir, Emma. Ich bin neugierig!”
“Ach, meine Ehe hat nicht lange gehalten,” sagt sie tonlos. “Die Zeiten waren zu hart und mit dem Kind, weisst du, es konnte mir ja auch keiner helfen. Da bin ich dann in die Innenstadt gezogen und habe mich zum Elektroingenieur ausbilden lassen. Studiert, und Teilzeitarbeit ein paar Jahre in Berlin. Dann nach Hamburg.” Sie klingt erschöpft, auch bei der Erinnerung. “Habe wieder geheiratet und mein Leben hat sich vollkommen verändert. Er war auch allein, mit drei kleinen Kindern. So, jetzt bin ich Grossmutter, und da weiss man doch, wofür man gelebt hat.” Sie stockt.
“Wie alt sind sie, Emma?” Das Thema macht sie froh. Ihre Stimme wird kräftiger.
“Fünf, zwei und da ist noch ein Säugling. Wir haben ihn noch nichtmal gesehen. Hast du auch Enkel?”
“Ja. Ist das nicht das Beste? Ich lebe in Kanada. Meine Enkelin ist sieben. Ich vermisse sie sehr, weil sie dieses Jahr im Ausland sind. Man kann so interessante Gespräche mit ihr führen. Sie will alles wissen und teilt sich so gescheit mit.”
“Sie sind aber in jedem Stadium aufregend, oder? Ob sie viel reden oder nicht. Jedes Kind ganz eigen, ganz verschieden. So vielversprechend und so schön! Ich war nämlich hässlich.”
“Aber Emma. Das stimmt doch gar nicht.” Anna holt tief Luft. Sag mal, sprichst du jemals über deine eigene Kindheit? Oder wirst du es eines Tages tun, es ihnen erzählen? Was meinst du?”
“Du, Anna, wenn sie je danach fragen, haben sie Pech gehabt. Ich erinnere mich einfach nicht an meine Kindheit. Es ist alles ein Nebel. Die Oberschule natürlich, und die Zeit im Bombeneinsatz in der Stadt— du warst doch dabei, nicht? Und deine Schwester? War die nicht auch bei uns?”
“Ja, Emma. Nadja. Wir waren alle zusammen, aber vor allem waren wir, du und ich, später fast vier Wochen beim Volkssturm auf dem Stolper Feld. Du hattest das Bett über mir, weisst du noch? Du hast immer gesagt, ‘Achtung, jetzt kommt der Stiefel,’ und wir haben Deckung genommen. Die Leitern war’n so rauh gezimmert, die Holzsplitter gingen durch die Socken.” Hier entstand eine Pause.
“Emma? Bist noch dran, Emma?”
“Volkssturm? Stolper Feld? Ich erinnere mich nicht an den Volkssturm. Ich war nicht dabei, Anna. Du verwechselst mich da mit ‘ner anderen, glaub ich. Ich war das nicht.”
“Emma? Aber Emma, ich weiss doch, dass du da warst — du und Lotte Schneider, kennste die nicht mehr? Ihr beiden habt immer—”
“Lotte, da hab ich ‘ne ganz dunkle Erinnerung. War sie bei uns in der Schule?”
“Nein, Emma. Möchtest du lieber nicht darüber reden? Ist das schwer für dich?”
“Nein. Ich erinnere mich einfach an gar nichts von den Tagen damals. Meine Tochter sagt, du schreibst irgend etwas, und du denkst, ich bin die letzte der Mädel, aber ich war nicht dabei, Anna. Du irrst dich.”
Anna ist im Sessel zusammengesunken. Sie sieht aus dem Fenster ohne die Szene wahrzunehmen. Wie ist es nur möglich, dass nach all den Wochen, in denen sie zurückgekehrt ist zu den Schauplätzen, den Stimmen von damals, sich an so viele Einzelheiten überrascht erinnert und vieles bestätigt findet, wie ist es möglich, dass sie sich so haarsträubend irren konnte? Sich die Ereignisse, Gespräche und Krisen in der gemeinsamen Arbeit einfach eingeredet hatte? Wie wenn sie auch andere Umstände, Zusammenhänge, ja Daten, falsch eingeordnet hätte, in der “Erinnerung” erfunden? Oder, wie Emma vermutet, sie mit einer anderen verwechselt?
Eine Stunde später ruft Eva an. Anna sitzt noch auf demselben Fleck.
“Hast du schon mit Emma telefoniert? Ich konnte einfach nicht mehr warten. Wie geht’s ihr?”
“Gar nicht sehr gut. Ihr Mann sagte, sie war sehr krank, erholt sich aber jetzt.”
“Hat er gesagt, was es war?”
“Nein, und ich mochte nicht fragen.”
“Anna? Du klingst so- was ist?”
“Naja. Ich sitz hier und überlege, wie’s weitergehen soll.. Es ist alles, hat auf einmal — mir ist so komisch.”
“Willst du lieber später reden?”
“Sie behauptet, sie war nicht dabei. Weiss nichts über den Volkssturm. Meine Anekdoten über gemeinsam erlebte Ereignisse konnte sie überhaupt nicht einordnen. Wusste nichts mehr von der Fledermaus, die sie furchtlos aus dem Gemeinschaftsraum entfernt hat, als alle anderen mit den Zähnen klapperten, ich auch; weiss nicht mehr, was sie in den letzten vier Kriegswochen gemacht hat, aber streitet ab, bei uns gewesen zu sein. Also mir wird erst jetzt klar, wie sehr ich mich darauf gefreut hatte, mit ihr zu quatschen.”
“Aber natürlich. Das tut mir ja so leid, Anna. Das ist ‘ne ziemliche Überraschung, wie?”
“Ja, ich war darauf gefasst, dass sie womöglich schon verstorben ist, aber als ihr sie gefunden habt, hatte ich so viel Hoffnung. Das ist jetzt unfair Fritze gegenüber, aber ich habe in den letzten Jahren gelernt, dass Mädel und Jungen sich anders erinnern. Auch bei denselben Anlässen. Und warum nicht? Man hat die Ereignisse anders erlebt, nur bedingt gemeinsam. Ihre Realität war doch verschieden von unserer. Sie waren die meiste Zeit unter sich und wir eben unter uns, aus denselben Gründen.”
“Na, woran erinnert Fritze sich denn?”
“Ach, andere Dinge halt, andere Ereignisse irgendwie.”
“Und du?”
“1944, glaube ich. Nach einem schweren Bombenangriff, früh am Morgen. Zwei der Jungens und Emma und ich - jedenfalls meine ich, es war Emma - sollten in einer leicht beschädigten Stehbierhalle so’n kleines Notversorgungsdepot aufmachen. Wir trugen einen vollen Wäschekorb mit Käsebroten und ‘nem Handtuch drüber, die Jungen einen Kaffeebottich. Wir hatten an ‘ner Ecke abgesetzt, wo nur noch Fassaden standen, die ganze Strasse weggepustet. Vor den Kellereingängen standen säuberlich aufgereiht die geretteten Schätze, Betten, Kartons, Koffer, ein Dackel, sonst keine Seele zu sehen. Als wir eben wieder anheben wollen, kommt die ganze Häuserfront wie im Dominoverfahren vorwärts runter bis auf die andere Strassenseite, mit einer Riesenstaubwolke und Mordskrach. Dann war’s mäuschenstill. Wir war’n wie angewurzelt. Da kam ein Mann mit ‘ner Mütze und Jacke und so ‘nem Werkzeugkasten um die Ecke.
“Helfen sie uns! Da sind lauter Menschen in den Kellern verschüttet,” haben wir laut geschrien und wollten blindlings vorwärts und mit nackten Händen in den Ruinen rumklauben.
Da sagte der Mann, ‘Ich habe keine Zeit, muss zur Arbeit!’ und rannte weiter. Wir waren völlig erschlagen.”
Emma behauptet, sie sei nicht dabei gewesen.
Es mag ja durchaus stimmen.
“Und Fritze meint, er war’s auch nicht. Keine Erinnerung. Vielleicht Picco.”
“Ihr habt damals davon erzählt.”
“Ich erinnerte mich an das namenlose Entsetzen angesichts der fallenden Wand, und meiner Ohnmacht und dem Schuldgefühl, unverletzt danebenzustehen.”
“Naja, und später bist du zu den Panzern eingezogen worden, das Vaterland verteidigen,” sagt Eva trocken.
“Das schon, aber ich bin ja nicht hin. Und weisst du was? Eben in diesem Moment ist mir aufgegangen, dass auch wir, dass auch von uns erwartet wurde, für die heilige Heimat zu sterben. Sie hätten es nicht so direkt gesagt, aber ich habe es noch nie richtig durchgedacht. Sie wollten eine ganze Bevölkerung von Soldaten.”
“Freilich. Aber hätten die Mädel einfach zu Hause bleiben können?”
“Ich weiss es nicht. Ich möchte es hoffen. Es schien der Regierung klar und völlig normal, diese Einberufung, nicht uns. Obwohl ich doch die beiden Schulkameradinnen im Dominikuskrankenhaus besucht habe, die sich gemeldet hatten und in dem Panzer hochgegangen sind. Hab’s trotzdem nie ganz kapiert.”
“Um auf Emma zurückzukommen,” sagt Eva, “ich weiss noch genau, wie sie am Tage, wo die russischen Panzer überall rumstanden, in voller Jungmädeluniform bei uns eintraf. Allerdings hatte sie die Jacke nach innen gefaltet und über dem Arm. Meine Eltern haben die Uniform im Ofen verbrannt und ihr was von meinen Sachen gegeben. Sie war ja sehr klein. Und dann haben wir zusammen im Bunker im Garten gehockt, wo uns keiner gefunden hat.”
“Weisst du auch, dass sie geradewegs von uns kam? Wir haben sie gar nicht gesehen, waren versteckt, aber meine Mutter ist fast in Ohnmacht gefallen, wie sie da morgens in der Tür stand und sagte, sie sei mit mir verabredet. Sie hatte gar nicht kapiert, dass die Panzer vor der Tür Russen waren! Sagte noch irgend etwas zu unserer Mutter über die eigenartigen gesteppten Lederkappen.”
“Ja, ich glaube, sie hat meinem Vater sowas erzählt. Fand das ganz irrsinnig komisch. Ich nicht.”
“Mutti hat ihr angeboten, sie sofort zu verstecken, aber Emma war rastlos, und Mutti hat sie denn nur dazu gekriegt, die Uniformjacke auszuziehen, und sie ist gleich wieder weg,” sagt Anna.
“Jetzt sag mal, wie wird denn das nun weitergehen mit deiner Arbeit? Wird das mit Emma viel verändern?”
“Ach klar, das bleibt ja nicht aus. Ich muss alles und jedes nochmal überdenken. Dir danke ich sehr für all deine Mühe. Danke, dass ihr sie gefunden habt. Ich freue mich trotzdem, möchte lieber die Wahrheit wissen. Ich ruf dich in ein paar Tagen an.”
Anna legt auf, geht in die Küche und macht Kaffee, kippt ihn in den Spülstein und kocht Tee. Trinkt ein paar Schluck.
Seltsam. Warum war Emma damals zu ihrem Haus gegangen, über eine halbe Stunde von zu Hause entfernt, und dann zu Eva, die um die Ecke wohnte? Es sei denn- Anna stellt die Tasse hin.
“Eva? Eva störe ich? Okay, setz dich erstmal hin. Denk mal genau nach. Wann etwa ist Emma eingetroffen bei euch, damals? Beim Russeneinmarsch? Nur ungefähr?”
“Na, die paar Tage sind aber rasch vorbei, aber ich merke schon, es pressiert. Hilde ist eben vorbeigekommen. Du hast uns also beide in Stereo.”
“Grossartig. Umarm’sie von mir. Aber bitte, denk mal angestrengt nach. Kannst du noch sagen welche Tageszeit es war?”
“Natürlich nicht genau. Ich würde sagen, es war etwa Mittag. Ich meine, wir haben was Mittagessen-Ähnliches mit in den Bunker genommen, aber das beweist noch nichts. Warum?”
“Doch. Es beweist schon etwas. Eine Menge sogar. Es bedeutet, dass meine Erinnerung der Vorgänge richtig ist, mindestens insoweit als sie doch bei uns in Stolpe war. Und sie ist es, die sich falsch besinnt, sich nicht erinnern kann. Es heisst, dass Emma am Morgen des 22. April, um 10 Uhr, wie Mutti berichtet hat, eingetroffen ist, verabredet mit Lilly und mir. Und falls das stimmt, kann sie nur davon gewusst haben, indem sie in der Nacht um zwei mit Lilly und mir die Verabredung getroffen hat. Auf dem Stolper Feld beim Abschied. Wie sonst hätte sie davon erfahren sollen? Es gibt keine andere Erklärung. Und jetzt, da ich drüber nachdenke, tut es mir masslos leid, dass ich mich in ihr Leben gedrängt habe, obwohl da die Tochter Warnsignale losgelassen hatte. Ich schäme mich.”
“Du, Anna”, Hilde’s Stimme im Hintergrund.
“Aber das habe ich zu verantworten. Ich habe die Nummer gewählt. Bitte bedauert nicht, dass ihr sie gefunden habt. Emma und ich haben gesagt, wir würden uns mal wieder melden, aber es gibt gute Gründe, sie schlicht in Ruhe zu lassen. Ich wollte es euch nur sagen.”
“Es scheint, du hast recht. Sie hat diesen Teil ihrer Erinnerungen aus gutem Grund gelöscht, aus Gründen, die wir uns mühelos ausmalen können, und sie hat kein Interesse daran, sie wieder auszubuddeln. Was solls. Hilde will mit dir reden.”
“Anna? Ich hab’ da eben gesessen und nachgedacht. Weisst du, als wir alle nach ihr geforscht haben hatten wir uns sicher Gedanken darüber gemacht, was wir wohl finden würden. Maja und ich haben mal drüber gesprochen. Wie wenn wir sie finden und sie leidet an Alzheimer? Was ist, wenn sie an ihren Erinnerungen arbeitet, oder ein Tagebuch geführt hat und eine ganz andere Sicht der Dinge bringt, mit völlig anderer Perspektive? Wie auch immer, aber wir wollten weitersuchen, teils weil wir bedauert haben, dass wir nicht damals zum Klassentreffen hartnäckiger geblieben sind. Haben Kameradinnen in aller Welt ausgebuddelt, aber nicht Emma. So wurde sie nicht eingeladen und hatte keine Gelegenheit, wieder in den Kreis zurückzukommen, wie so viele von uns. Sowas ähnliches hat uns jetzt motiviert. Und nun bist du sehr enttäuscht, und wir mit dir, und vielleicht ist das Ganze wirklich aufwühlend für sie. Aber meinst du nicht, dass sie auch teilweise erfreut war, dass sich drei alte Schulkameradinnen so bemüht haben, sie ausfindig zu machen? Ihre Tochter hat ihr genau gesagt, worum es sich handelt. Sie brauchte ja nur ‘nein’ zu sagen, dass es ihr zu viel wird. Und meinst du nicht, dass sie genossen hat, wie ihr zwei Alten über eure Enkel euch ausgetauscht habt? Wie wir alle närrischen Omas? Eva sagt, Emma hat drei, sogar noch ein nagelneues. Ich denke, dass sie gerne davon erzählt hat, ihren Stolz gezeigt, vielleicht auch vor den Ohren von ihrem Mann?”
“Ja, Hilde, du hast recht. Den Teil hat sie genossen. Vielleicht denkt sie, wir hätten am Ende grässlichen Klatsch über die frühere Ehe gehört oder was? Ich weiss von gar nichts, war ja nicht mehr hier. Hab’ sie total aus den Augen verloren. Aber weiss man’s?”
“Genau, wer weiss. Sie hat der Tochter zu verstehen gegeben, sie könnte die Telefonnummer weiterreichen, und das ist gleichbedeutend mit einer Einladung , die übrige Welt wieder zuzulassen . Da bin ich stolz auf sie.”
“Hm. Ich glaube, ich werde eben Emmas Geschichte so hinschreiben, wie ich mich erinnere, mit der Zuneigung, die ich für sie hatte, als Teil der ganzen Story eben. Könnt ihr euch vorstellen, sie wusste nicht mal mehr, wie sie war? Wusste zum Beispiel nicht, dass wir alle empfanden, sie hätte Kameradschaftlichkeit im Alleingang erfunden, oder dass sie ulkig sein konnte, rasch und ausgezeichnet organisiert war, mit so kühlem Urteil. Ich habe sie dran erinnert. Sie war von den Socken.”
“Na Anna, weisst du etwa, wie die andern Mädel dich gesehen haben, von den Jungen ganz zu schweigen?”
“Nee. Eigentlich nicht. Stimmt. Meine Schwestern haben mich immer mal wissen lassen, dass ich sie ganz schön rumkommandiere. Und du, weisst du noch, wie deine Freunde dich fanden wie du so warst?”
“Aber ja,” sagt Hilde. “Alle haben immer von mir erwartet, dass ich sie zum lachen bringe. Dachten, ich wär irrsinnig komisch, voller Witze.”
“Na weil du wirklich so warst. Und du hast selber viel gelacht.”
“So, nun langts für heute,” sagt Eva streng. “Ich war Einzelkind, und meine Eltern haben mich der Einfachheit halber wie eine Erwachsene behandelt. Es war riesig gut. Sollen wir in ein paar Tagen wieder reden?”
“Telefon-Umarmungen sind nicht besonders befriedigend, aber das ist alles, was ihr heute von mir erwarten könnt.” Und dann hängt Anna auf.