Auf dem anderen Bahnsteig drängt die Menge sich an die Türen als der Zug endlich eingelaufen ist, und so rennt Anna weit nach vorne und kommt eben noch hinein. Neben ihr steht eine schlanke junge Frau.
“Oh Entschuldigung!” sagt Anna, in der Meinung, sie habe die Dame mit dem Rucksack gestossen. “Keine Ursache,” antwortet die, “wollen wir ihr Gepäck vielleicht hier hinter den Sitz schieben?” Die beiden sehen sich an.
“Kanada! Was machst du denn hier? Ich hab dich eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.” Sie umarmen sich. Aber Anna zieht sich zurück.
“Vorsicht. Ich bin wahrscheinlich mit Öl und Russ verschmiert. Du siehst grossartig aus. Lass mich mal nachdenken. Als wir uns das letztemal gesehen haben, warst du grade frisch verlobt, mit einem U-Boot Offizier, aber dann seid ihr umgezogen und—”
“Ja, meines Vaters Bureau war ausgebombt, und da haben wir eine kleine Wohnung in der Nähe der neuen Arbeitsstelle bekommen, draussen in Dahlem. Da hausen wir drei seitdem. Meine Eltern fahren aber jetzt bald nach Hause, zurück nach Kanada.”
“Ich wette, sie können’s nicht abwarten, richtig im Frieden zu leben,” sagt Anna. “Es ist ja für deine ganze Familie eine derartige Katastrophe —”
“Ja. Und nun fahren sie alleine zurück,” sagt Alma langsam. “Ohne Dirk. Du hast doch gewusst, dass sie ihn letzten Herbst eingezogen hatten?”
“Nein. Wir haben nichts gewusst davon.” Anna will nicht hören was nun kommt.
“Die Regierung war der Auffassung, dass Dirk nach deutschem Gesetz deutscher Staatsangehöriger war, weil mein Vater nie die kanadische angenommen hatte, und drum blieb Dirk keine Wahl. Wenigstens haben sie ihm erlaubt, zur See zu fahren. Da wollte er hin, wenn er schon mit musste. Anfang Dezember ist er mit einem Minensucher ausgelaufen und Weihnachten war er tot.” Alma hat Tränen in den Augen.
Anna kann nichts sagen, findet keine Worte. Alma schluckt.
“Das Schlimmste ist, meine Mutter kann es immer noch nicht fassen, dass sie ihren Sohn für eine ihr so fremde Sache verloren hat. Sie sucht nach einer Antwort, verstehst du? Sie denkt immer, sie hätten etwas energischer sein müssen. Mein Vater hat es ja versucht, aber ohne Erfolg. Jetzt wollen sie halt nur hier raus.”
“Das kann man ihnen nachfühlen. Ich verstehe jeden der hier weg will. Es ist ja wie ein Friedhof ohne Frieden. Und wie ist es mit dir? Willst du denn nicht mit?”
Müde Mitreisende drängen grob an ihnen vorbei, Männer und Frauen, und ein paar Schulkinder.
“Ich habe eine Stelle bei der amerikanischen Militärregierung,” sagt Alma.
“Sie brauchen dringend Leute, die fliessend Fremdsprachen können und eben auch im Schriftlichen perfekt sind, und da haben sie mich mit meinem Englisch und Französisch gleich bei der Kontrollkommission eingestellt. Es ist eine gut bezahlte Stelle, und die Arbeit ist interessant. Sobald ich genau weiss, was mit meinem Verlobten ist, - sein Boot ist vermisst - dann will ich mir überlegen was ich mache. Ich fahre übrigens da hinaus, einen kleinen Koffer holen, den wir bei Nachbarn haben stehen lassen. Wir können den ganzen Weg zusammen gehen, wie früher. Wo kommst du denn her? Was meintest du mit Öl und Russ an deiner Jacke?” Da erzählt ihr Anna eine Kurzfassung der ganzen Geschichte.
Als sie aus dem Bahnhof kommen, sieht Anna gleich die Veränderung um die Anlagen herum. Der Bahnhofsplatz ist aufgeräumt, der Schutt ist weg, und kleine Baracken stehen an der Stelle der zerstörten Geschäfte. Fensterscheiben sind überall wieder drin.

Ihr Vorort ist im französischen Sektor gelegen. Kleine Militärfahrzeuge fahren an ihnen vorbei mit französischen Erkennungszeichen, und niemand unter den Passanten scheint sich zu fürchten. Lange Schlangen stehen vor zwei Geschäften an, aber man erkennt sofort, dass quasi normale Verhältnisse eingekehrt sind seit sie im Frühsommer aufgebrochen waren.
Kanada erkundigt sich wie es hier herum gegangen sei, aber fügt gleich dazu, dass Anna nicht antworten müsse. So erzählt Anna die skurrile Geschichte, wie sie eines frühen Morgens in den Wald gegangen ist, Pilze sammeln, und plötzlich einen scheuen jungen Sowjetsoldaten vor sich sah, der in gebrochenem Deutsch wissen wollte, was sie da machte. Er half ihr sogleich beim Pilze suchen, und zeigte ihr dann eifrig das Foto seiner stupsnasigen deutschen Freundin in Jungmädel- Uniform, und zeigte nach Osten, wo er die Oder vermutete, an deren Ufer seine Einheit lange und verbissen gekämpft und dann abgewartet hatte, bis am 16. April der letzte Grossangriff auf die Reichshauptstadt losging. Er drückte mit romantischer Geste das Foto an sein Herz und schlug Anna vor, nun seine nächste deutsche Freundin zu werden. Ihr sei im letzten Moment eingefallen, was die Frauen in der Brotschlange ein paar Tage vorher besprochen hatten. Und sie beichtete ihm, sie sei ‘krank’.
“Ehrlich gesagt hatte ich keine ganz genaue Vorstellung davon, was das bedeutet, er aber schon, und im Handumdrehen war er verschwunden.” Alma lacht.
“Gottlob,” sagt sie. “Daddy hatte noch eine kanadische Flagge. Die hat er aus dem Fenster gehängt, und da haben sie uns in Ruhe gelassen.”
Als sie an der Ecke angekommen sind, kritzelt Kanada ihre Telefonnummer auf ein Stück Papier aus ihrer Tasche, sie umarmen sich lange und werden sich nie wieder sehen.
“Anna ist hier! Anna ist wieder da!” schreit Foffie und springt vom Fensterbrett, als er sie auf der Strasse herankommen sieht. Korinna läuft ans Gartentor und hilft ihr tragen.
“Höchste Zeit,” sagt sie nüchtern. “Unsere Mutter hat angefangen, die Nachbarn mit Spielzeugknarren zu beschiessen.”
“WIIIEEEE bitte? Mach mal langsam. Wie meinst du denn das?”
“Na letzte Woche. Sie hat sich spät abends hinter eine Birke im Park gestellt und mit einer Spielzeugpistole auf den Nachbarn von gegenüber gezielt. Der konnte sie natürlich genau sehen, hat sie aber nicht erkannt und schlicht verprügelt. Mach dich auf ein blaues Auge gefasst.”
“Was um Himmels willen hat sie ?” sagt Anna.
“Frag mich nicht. Sie hat behauptet, er schmuggelt Waffen und verunsichert die ganze Nachbarschaft. Natürlich völliger Unsinn. Aber sie glaubt fest daran und wird dir alle Einzelheiten erzählen wenn du sie lässt. Pass übrigens auf, wenn du sie in den Arm nimmst. Sie hat Furunkel auf dem Rücken.” Korinna macht die Haustür auf.
Mutti steht in der Diele, die Hände über der Brust verschränkt und lächelt Anna an.
“Mein grosses Mädchen. Ich wusste ja, dass du wieder kommst. Wo ist Nadja? Warum hast du solange gebraucht?”
Anna setzt den Rucksack auf den Küchentisch, umarmt erstmal alle drei, und dann packt sie Tante Mariannes Schätze aus. Da sind Butter und Käse, Reis, Pumpernickel und Honig, Wurst, eine Dose mit Corned Beef, Eipulver und Dosenmilch, Tee und Linsen und eine grosse Tüte mit Äpfeln und Birnen. Und für die Kinder hat sie je eine Tafel Schokolade.
“Wo hat meine Schwester denn alle diese - hast du Zucker mitgebracht?”
“Ich denke, ja,” sagt Anna und holt eine kleine Tüte hervor. Mutters Augen sind gross und rund, aber auch besorgt, so als sei dieser Reichtum nicht ganz geheuer, womöglich gestohlen, und könnte jeden Moment vom rechtmässigen Eigentümer wieder eingesammelt werden.
“Die Post funktioniert ja wieder, und nun werden sie regelmässig was schicken, um uns auszuhelfen.”
“Ach, die Post ist immer noch eine Plage,” sagt Korinna. “Lauter uralte Rechnungen, und Postkarten, die vor zehn Monaten geschrieben worden sind. Briefe von Leuten die längst tot sind. Sehr traurige Geschichten, aber immerhin geht sie wieder.”
“Habt Ihr das Säckchen bekommen von dem Mann, der über die grüne Grenze gegangen ist?” fragt Anna.
“Ja, der kam hier an und erzählte alles,” sagt Korinna. Sie blickt Anna bedeutungsvoll an.
Eine hübsche junge Person steckt den Kopf in die Tür und sagt, sie ginge jetzt aus. Und würde Korinna ihrer Schwester bitte Bescheid sagen?
Korinna nickt ihr zu.
“Wer war denn das?” fragt Anna.
“Eine Hure!” sagt Mutti giftig.
“Wirst du endlich damit aufhören,” fährt Korinna sie an. “Sie ist keine Hure. Margrit arbeitet für ein französisches Offizierskasino ein paar Strassen weiter, da bei der Schule. Sie und ihre Schwester haben oben zwei Zimmer gemietet. Sie versuchen ihr Leben wieder ins Gleis zu kriegen, und es sind nette, mutige Frauen!” Und Korinna stampft aus der Küche.
Foffie hat Erlaubnis ein Drittel der Schokolade gleich jetzt zu essen, und kaut glücklich. Anna schwingt ihn im Kreise herum. Er ist federleicht.
“Mutti, entschuldige, aber ich bin völlig verdreckt. Kann ich in die Badewanne? Das Gas ist doch wieder an, oder? Wir reden später weiter.” Mutti nickt eifrig und geht voran nach oben.
In all den schlimmen Monaten hat Foffie sich nie beklagt, dass er Hunger hat, aber die Schwestern und Mutti wussten bescheid. Seitdem die Lebensmittelkarten eingeführt wurden sind die Menschen noch immer hungrig, aber nun gibt es wenigstens Gewissheit, dass an bestimmten Daten im Monat Lebensmittel an die Geschäfte geliefert werden. Und zwei Tage nach ihrer Heimkunft muss Anna Foffie sogar zum Essen hereinrufen. Er spielt in dem frisch gesäuberten Sandkasten und spricht mit Onkel Wernig, der erheblich besser aussieht als Anna ihn in Erinnerung hat. Sie geht auf ihn zu.
“Guten Tag, Herr Wernig. Unser Vater lässt sie herzlich grüssen und besonderen Dank. Sie können sich vorstellen, wie glücklich er war, als wir ihn bei unseren Verwandten überrascht haben. Er hatte das Schlimmste befürchtet, versteht sich.”
“Und mir hat er Schokolade geschickt,” ruft Foffie herüber. “Und Schuhe!”
“Wie geht es denn bei ihnen?” fragt Anna. Und erfährt, dass man Onkel Wernig eine Anstellung in einem Baubüro angeboten hat, und als studierter Architekt will er sie auch annehmen.
Der Krieg ist am 8. Mai 1945 zu Ende gegangen, mehr als fünf und ein halb Jahre nach seinem Anfang. Die Kanonen sind verstummt, die Toten begraben, und der Schutt wird von Tausenden von ‘Trümmerfrauen’ weggeräumt, wobei alle irgendwie brauchbaren Ziegelsteine sorgsam aufgehoben werden. Noch räumen sie auf, aber bald wird der Wiederaufbau beginnen. Die verheerten Orte und Städte im Land sind langsam im Wiedererstehen, langsam und allmählich, aber der Prozess ist im Gang, und was für eine kostbare, hoffnungsvolle Zeit das für alle die sein wird, die den Krieg überlebt haben und sich beim Neubeginn beteiligen können.
Die ihn nicht überlebten starben in dem Glauben, dies sei der letzte unbeschreibliche Völkermord, genau wie die Überlebenden aller Armeen die im ersten Weltkrieg gekämpft hatten.