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Herbst 1945
Zurück in die geteilte Stadt

Am darauffolgenden Samstag machte sich Anna im dunklen Trainingsanzug und in Tannte Mariannes alten Tennisschuhen auf den Weg. Den schweren Rucksack auf dem Rücken, wanderte sie in Braunschweig auf dem Güterbahnhof herum, duckte sich hinter Waggons, versteckte sich hinter Gepäckwagen und machte sich flach, wenn eine Lok vorbeikam. Sie hatte hier nichts zu suchen und war auf Ärger vorbereitet. So früh am Morgen waren nur wenig Menschen zu sehen, aber sie wusste ja was sie suchte, musste eine Lok finden die vorne auf einer runden Stahlplatte die Ziffern 5 und mindestens zwei Nullen in der Mitte hatte, vier Zahlen insgesamt. Dann sollte sie die dazugehörigen Eisenbahner ausfindig machen und Krokodilstränen vergiessen.

“Das kriegt sie weich, du wirst schon sehen,” hatte er ihr geraten, aber Vater hatte sehr unglücklich ausgesehen bei dem Gespräch. In der Küche hatte Tante Marianne ihr eine hochprozentige Flasche Schnaps vom Land gezeigt, etwas Vodka-artiges, fest verkorkt, und ihr aufgetragen, die Tränen beiseite zu lassen und stattdessen Auge in Auge das Tauschgeschäft zu erörtern.

“Ich muss nach Berlin,” sollte sie standhaft sagen, nicht, “ach könnten sie mich nicht vielleicht …” und Anna verstand sehr gut. Allerdings hatte sie noch nie jemandem auch nur ein Trinkgeld gegeben, von Bestechung ganz zu schweigen. Sie sollte sich also in aller Ruhe auf das Geschäft konzentrieren. Die haben was ich brauche, und ich habe die Flasche, die sie haben wollen. Sie sollte sich nicht mit der Vorstellung aufhalten, was dem Lokführer und Heizer blühte, wenn sie bei ihnen gefunden würde.

Sonnenklar, dass man die verantwortlich machen würde, falls man sie entdeckte. Egal, das war das Risiko, das die beiden eingingen. Oder auch nicht.

“Suchen sie jemanden?” fragte ein Eisenbahner, der an den Schienen entlangging. “Wenn sie den Güterzug nach Berlin suchen, der ist da vorne, aber ich möchte sie gleich warnen. Die Russen stochern mit langen Stangen zwischen den Kartoffeln und Steckrüben herum. Die nehmen sich Zeit, und die finden Alle. Noch schlimmer. Die schicken sie ja nicht zurück. Die behalten sie ja gleich da. Unschön. Ich will ihnen ja nicht Angst machen, aber ich würde es mir nochmal genau überlegen. So ein hübsches Mädchen.” Er ging weiter und überliess sie ihren Gedanken.

“Ach, entschuldigen sie,” Annas Stimme wackelte nur eine Spur, “gehören sie auch zu dem Zug? Sind sie der Zugführer?”

“Nee, das wäre mein Freund Charlie. Soll ich ihm was bestellen?”

“Ja, bitte. Wenn die Lok mit einer Nummer wie 5006 registriert ist, oder sowas Ähnlichem, dann will ich mit ihm reden,” sagte Anna fest, und überlegte im gleichen Augenblick, ob sie den Verstand verloren habe. Sie setzte den Rucksack ab und holte die Flasche heraus. Das Etikett enthielt lediglich den eindrucksvollen Alkoholgehalt, weiter nichts, aber das schien ihren neuen Freund mit Ehrfurcht zu erfüllen.

Sie streckte ihm die Hand hin.

“Gerhard,” sagte er, “ich schaufele die Kohle. Woher haben sie denn das mit der Loknummer? Ich will nicht unhöflich sein, aber da bin ich neugierig.”

“Ach, eine Frau hat uns das erzählt. Sie kam vor kurzer Zeit aus Berlin.”

“Ach wirklich? Echt?”

“Ja, das hat sie gesagt,” log Anna.

“Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf,” sagte Gerhard, “geben sie ihm nicht die Flasche, bis sie genau wissen, was auf sie wartet um da rüberzukommen, verstehn sie? Es könnte sein, dass sie die Flasche nicht wiederkriegen. Vielleicht wollen sie sich’s ja nochmal überlegen.”

Anna verstand. Sie kamen in eine gemütliche Baracke auf dem Bahngelände. Charlie gefiel ihr nicht so gut wie Gerhard. Er war ein schwerer Mann mit vollen Lippen und fettig anliegendem Haar, so gar nicht der Typ, den man sich als Lokführer vorstellt. Er blickte auf als sie hereinkamen, und Gerhard formulierte vorsichtig was die Besucherin von ihnen erwartete.

Charlie musterte sie von oben bis unten.

“Wie alt sind ‘n sie?” fragte er.

“Sechzehn,” sagte Anna. Die anderen Eisenbahner verliessen den Raum in klarer Erkenntnis, dass hier folgenschwere Verhandlungen kommen würden.

“Naja, sie müssen stundenlang bis zum Nabel im kalten Wasser stehen,” sagte Charlie strafend. “Und heutzutage wissen wir ja nie, wieviele Stunden es genau dauert an der Grenze. “Wir können sie da erst rausholen, wenn wir wieder unterwegs sind. Verstehen sie?” Anna nickte.

“Wo ist das kalte Wasser? Ich habe noch nie—”

“Gleich vorne auf der Lok. Wasserspeicher.”

“Ja, es gäbe noch eine andere Möglichkeit,” sagte Gerhard da. “Ich will mich ja nicht einmischen, aber—”

“Richtig. Kriegen sie Platzangst?”

“Was ist’n das genau? Ein Freund von mir hatte—”

“Es könnte gehen. Kommen se mal mit.”

Charlie, Gerhard und Anna gingen an den Schienen entlang bis sie an den Güterzug kamen. Als sie vorne vor der riesigen Lok standen, fühlte Anna sowohl Zuversicht als auch Entsetzen. Charlie nahm ein Werkzeug und entfernte eine Stahlplatte.

“Was wiegen sie denn, Mädchen?”

“Ich weiss nicht genau. Hundertfünfzehn Pfund ungefähr.”

“Dann passen sie rein. Nehmen se mal den Rucksack ab. Den müssen wir auf der Lok lassen, aber keine Sorge. Gucken se mal da rein. Die Rohre da? Hocken se sich mal hin. Zeigen se mal, wie klein se sich machen können. Ein festes Paket, Arme um die Knie, Gesicht nach unten. So isses gut. Bleiben se von den Rohren weg. Wenn wir über die Grenze sind, holen wir sie raus, und sie fahren den Rest der Strecke oben mit. Verstehen sie? Theoretisch können sie die Platte von innen aufmachen, aber nie während der Fahrt und AUF KEINEN FALL wenn wir halten, denn da könnte ja ein Posten direkt davor stehen. Die haben keinen Humor, das versprech ich ihnen. Ich will keine Löcher in meiner Lok, alles klar? Sitzen sie still, bis wir sie rausholen. Egal, wie lange es dauert. Die werden nie glauben, dass sie hier alleine reingekrochen sind. Wenn die uns erwischen —”

“Abgemacht,” sagte Anna und reichte ihm die Flasche rüber. Charlie nahm sich ihrer an, aber Anna schien es, als ob Gerhard ungemütlich zusah.

Eine Stunde später waren sie unterwegs. Der Zug rumpelte durch die Braunschweiger Vorstadt, und Anna versuchte sich vorzustellen, wie die Landschaft draussen wohl aussah, bevor sie die Zonengrenze erreichen würden, die Unbefugte unter keinen Umständen überqueren durften.

Gerhard hatte ihr gesagt wie lange sie bis zur Grenzkontrolle brauchen würden, aber Anna war ohne Uhr, und selbst wenn sie eine gehabt hätte, wäre es ihr kaum möglich gewesen, das Handgelenk in ihr Blickfeld zu manövrieren. Sie nahm sich vor, ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihr Ziel zu setzen, versuchte, sich die einzelnen S-Bahnstationen vorzustellen, die sie auf dem Weg nach Hause passieren würde. Sie dachte an die Gesichter von Mutti, Korinna und Foffi, und ihre Überraschung, sie wiederzusehen, und stellte sich den Augenblick vor, in dem sie den Rucksack mit all den guten Sachen auspacken würde. Sie ging über jedes einzelne Stück, das sie eingepackt hatten, auch die kleinen Geschenke von Tante Marianne für die Kinder. Und dann erinnerte sie sich an die Freude, die Zuversicht in der einen Malstunde, die sie vor ihrer Abfahrt hatte einschieben können.

“Sie kommen wieder,” hatte die Malerin gesagt, “da bin ich ganz sicher. Viel Glück, liebes Kind.”

Der Zug hielt. Einen Augenblick lang herrschte völlige Stille, dann hörte sie laute Stimmen neben der Lok, Rufe auf Russisch und Deutsch. Jemand hieb mit einem Metallteil, so schien es, gegen die Räder. Was würde geschehen, falls sie sie hier entdeckten? Was würden sie mit den Eisenbahnern machen? Ob sie jemals einen schwarz Reisenden in diesem Loch gefunden hatten? Sie hatte ganz vergessen, zu fragen, vielleicht wollte sie es auch nicht wissen. Aber wenn das der Fall wäre, hätten diese beiden sich auf das Geschäft mit ihr eingelassen?

Die Stimmen ebbten ab, aber das metallene Hämmern war noch länger zu hören. Nach langer Wartezeit hörte Anna mehrere Schüsse, dann wieder Ruhe. Die Zeit stand still. Es schien ihr, als ob mindestens eine Stunde oder mehr vergangen war. Anna wurde sich nun all ihrer Muskeln bewusst, in Schultern, Armen, Füssen und im Bauch. Sie wollte unbedingt ihre Beine bewegen, aber das ging nicht, also wackelte sie mit den Zehen. Sie versuchte, sie einzeln zu heben, aber schaffte es nicht, also wackelte sie mit den grossen Zehen, erst dem einen, dann dem anderen. Und dann ging sie zu ihren Fingern über. Das war leichter. Sie spielte im Geist den Telemann auf der Blockflöte, den sie auswendig konnte. Und da capo.

Nach einer Ewigkeit näherten sich wieder Stimmen, diesmal nur deutsche. Es klang als riefen sie direkt in ihr Ohr, so etwas wie, sie würden nun bald abfahren, und dann fuhren sie tatsächlich wieder los.

Fürs erste ging es nur sehr langsam, und Anna wollte sich eben Sorgen machen, da hielten sie an, und mit lautem Lärmen und Kratzen machte Gerhard die Klappe auf, und Tageslicht strömte in Annas dunkle Zelle. Gerhard gab ihr die Hand und half ihr heraus, wo sie sich erstmal strecken und ein paar Schritte gehen musste. Was für eine Erleichterung!

Charlie war oben auf der Lok geblieben und zeigte nun mit einladender Geste auf die Leiter, übertrieben einladend, dachte Anna. Sie stieg hinauf.

“Ich freue mich richtig auf die Fahrt,” sagte sie. “Ich bin noch nie auf einer Lokomotive gewesen. Was für’n Abenteuer.”

“Kannste annehmen,” sagte Charlie, legte seinen Arm um Annas Taille und drückte fest zu. Sie roch seine Fahne und machte sich energisch frei. Gerhard schaufelte hinten auf dem Tender Kohlen ins Feuer und hatte nichts gesehen. Der Zug fuhr nun schneller, und Anna sah hinaus, auf Wiesen und Felder, und verbarg sich nur, wenn sie an einem Bahnübergang vorbeikamen oder durch ein Städtchen fuhren, aber die beiden schienen nichts zu befürchten. Bald bemerkte Anna, wie wenig Aufmerksamkeit so eine Lok offenbar benötigt, denn Charlie drehte sich fortwährend zu ihr um, schwang die Flasche und grabschte nach ihr.

“Hier, gib Charlie mal’n Küsschen,” murmelte er, und zog sie beim Arm.

“Nein, Charlie, ich will sie nicht küssen,” sagte Anna laut, und schubste ihn weg, aber das hielt ihn nicht ab. Er widmete sich kurz seinen Pflichten und drehte sich dann wieder um, wollte die Flasche kreisen lassen, aber Gerhard und Anna lehnten dankend ab. Dann folgten um so heissere Umarmungen.

“Du Charlie, warum lässt du das Mädchen jetzt nicht mal in Ruhe? Du bist ganz schön blau, weisste das?” sagte Gerhard. Und für wenige Minuten benahm sich Charlie wieder wie ein ordentlicher Lokführer, pfiff ein Liedchen, kicherte vor sich hin, aber dann, als Anna schon hoffte, er würde nun von ihr ablassen, ging er plötzlich wieder auf sie los, riss sie zu sich herüber und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen. Drängte sich an ihren Körper.

“Gerhard, Hilfe!” schrie Anna, aber der schaufelte grade wieder mit fürchterlichem Radau seine Kohle und hörte nichts. Dieses waren jeweils die Gelegenheiten, die Charlie abwartete, um Anna anzufallen. Nun hatte sie genug. Sie gab ihm unvermutet einen kräftigen Stoss mit dem angezogenen Knie, und eine Schrecksekunde lang sah es so aus, als würde er rückwärts von der Lok torkeln, aber dann erwischte er doch den Griff an der Leiter und zog sich auf die Beine, starrte mit glasigem Blick zu ihr hinüber.

Anna wartete nun, bis Gerhard in einem untätigen Moment bei ihr stand, dann schrie sie aus vollem Hals,

“Charlie, wenn sie mich noch einmal anfassen, dann bringe ich sie um!” Ihre Augen waren so zornig, dass Gerhard endlich kapierte und sich energischer einmischte.

Er nahm Charlie die Flasche ab, verbarg sie sorgfältig auf dem Tender unter den Kohlen und erklärte ihm, er würde sie ihm erst in Berlin wieder aushändigen.

“Ich will ja kein Spielverderber sein, Charlie, aber für heute haste genug.”

Dann erinnerte er Charlie noch daran, dass er schonmal volltrunken im Dienst erwischt worden war und um ein Haar seinen Arbeitsplatz verloren hatte, nach dreissig Jahren auf der Lok. Wollte er das wirklich riskieren? Charlie war eingeschüchtert, indem ihm die Zunge kaum gehorchte und er an seinem Platz hin und her schwankte.

“Keine Bange,” sagte Gerhard. “Er bringt den Zug heil nach Hause. Der ist wie’n Pferd. Nichts hält ihn davon ab, in seinen Stall zu kommen.”

“Wo fahren sie denn genau hin?” fragte Anna. “Wo können sie mich absetzen?”

“Wir kommen an einem S-Bahnhof in den Aussenbezirken vorbei. Da können wir für ‘ne Sekunde halten, wie Charlie? Charlie?”

Der hatte offenbar ursprünglich andere Pläne gehegt, aber stimmte nun zu.

“Du hast unheimlich Schwein gehabt,” murmelt er nun vor sich hin, “ich hoffe, das is dir klar. Die haben zweiundzwanzig Kerle aus den Waggons geholt. Zweiundzwanzig unter den Kartoffeln und den Rüben. Wollen wer hoffen, dass sie se laufen lassen. Auf jeder Fahrt sind’s mehr. Soldaten wollen nach Hause zu Muttern.” “Oh Gott,” sagt Anna.

Als sie am Bahnhof halten, hilft ihr Gerhard hinunter und reicht ihr den Rucksack. Sie geben sich die Hand. Da springen zwei verstaubte Gestalten hinten aus einem Waggon auf den Bahnsteig und winken. Gerhard und Anna winken zurück. Dann nimmt sie ihr Gepäck, geht die Treppen hinunter durch die Unterführung und kauft ganz ordnungsgemäss eine Fahrkarte nach Hause.