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Sommer 1945
Beinah wie im Frieden

Tante Marianne steht erwartungsvoll in der Wohnungstür, gross und schlank, in ihrer makellosen Kittelschürze. Ihr ernstes Gesicht schmilzt in das freudigste, wärmste Lächeln, das sie je an ihr gesehen haben. Sie öffnet die Tür noch weiter und schliesst beide Nichten in die Arme.

“Oh Mädels, was für ein Glückstag! Wartet, bis euer Vater nach Hause kommt. Wie wird der sich freuen. Ich wünschte ich könnte ihn jetzt gleich herbringen.” Immer wieder umarmt sie Anna und Nadja, dann ruft sie ihre eigenen Kinder, die nun schon vier und fünf Jahre alt sind, und die Grossmama.

“Onkel Robert ist mit Phillip weggefahren, aber sie müssen bald wieder da sein.” Es stimmt also: Der Vater ist da, ist heil und gesund!

Der Abendbrottisch ist gedeckt. Sie haben ein Verlängerungsteil eingeschoben, die lange Tischdecke ist drauf gekommen, und extra Besteck, und Gläser stehen nun da. Den Schwestern ist so, als wären sie erwartet worden und die Tante hätte ihre allerletzten, kostbaren Vorräte ausgeräumt. Sie entdecken Platten mit Räucherfisch und Rollmops, Radieschen und gekochten Eiern, Salatgurken in saurem Rahm, Rote Beete, Landbrot und Butter. Es steht eine Flasche Cinzano neben Onkels Teller, wie früher immer, und Mineralwasser, und Kräutertee für die Kinder.

Als Anna und Nadja den reich gedeckten Tisch betrachten, empfinden sie zum ersten Mal einen tiefen Schmerz, das Schuldgefühl, heil und sicher hier angekommen zu sein, mit der Aussicht, fürs erste nicht wieder hungern zu müssen, das Bewusstsein einer Geborgenheit, an die sie sich kaum noch erinnern können. Und die drei zu Hause Gebliebenen sitzen heute in der Küche mit Pellkartoffeln, wenn sie Glück haben. Zu wenig Pellkartoffeln allemal.

Es ist alles zu überwältigend. Sie haben beide ein Bad genommen, die Haare gewaschen und frische Wäsche an, aber nicht wirklich berichtet, ausser, dass ja Mutti, Korinna und Foffi alle am Leben sind. Grossmama, die ihr wunderschönes altes Haus in Hannover mit seinem kostbaren Inhalt verloren hat, sitzt zufrieden auf dem Sofa, an jeder Seite eine Enkelin und hält ihre Hände. Sie sieht glücklich und heiter vor sich hin.

“Das ist alles was ich brauche,” sagt sie, “meine Familie um mich herum, heil und gesund. Was sollen unsere Habseligkeiten zum guten Schluss? Sie sind unbedeutend. Und diese beiden Kleinsten werden das auch bald lernen.”

Sie hören ein Geräusch an der Wohnungstür.

“Schnell,” sagt Tante Marianne, “versteckt euch im Wintergarten.” Und sie laufen rasch hinüber. Da hören sie Onkels Stimme, “es war eine lange Umleitung. Sie haben einen schweren Blindgänger gefunden und die ganze Umgebung evakuiert. Wir haben ewig gebraucht.”

“Macht nichts, Robert, Phillip. Ich habe, wir haben die wunderschönste Überraschung!” Und sie flüstert etwas in Onkels Ohr. Der übernimmt nun das Weitere.

“Rate mal, wer heute nachmittag angekommen ist? Geh mal ins Esszimmer, Phillip, aber beruhige dich erstmal. Ganz ruhig, Phillip, sieh dich mal um.”

Die Töchter warten hinter den Glastüren, und das ist auch gut so, denn so sieht der Vater nicht ihren Schrecken, als sie ihn nun sehen. Er sucht unter der Tischdecke, zieht das Sofa von der Wand weg und will grade ungeduldig werden, da kommen sie heraus und umarmen ihn, und alle brechen in Tränen aus. Und dann sitzen sie gemeinsam um den Tisch, lachen und reden alle durcheinander und kichern, und sogar die Kleinen dürfen einen winzigen Schluck von Onkel Roberts Sekt probieren, und dann schlafen sie fast am Tisch ein, aber Anna und Nadja tragen sie in ihr Kinderzimmer.

Foffie fehlt ihnen schon sehr.

Bis spät in die Nacht sitzen sie dann im Wohnzimmer und berichten, beantworten viele Fragen, aber sie erzählen nicht alles. Gewisse Dinge muss man für später aufheben, und manche einfach lassen. Vater kann nicht stillsitzen. Er läuft ruhelos hin und her, während er zuhört. So ungewöhnlich für ihn.

Anna weiss noch nicht, dass die geschichte der Jungen und Mädel vom Stolper Feld sie ihr leben lang begleiten wird, ihr schicksal ungewiss.

Später fragen sie den Vater, wie er bloss rausgekommen ist, ohne von den Russen erwischt zu werden. Und er berichtet, wie er mit seinem bedripsten Haufen von Weltkriegsteilnehmern, wohl bewaffnet, aber ohne Munition, durch die vertrauten Wälder gezogen ist, in jedem Ort einige mit Entlassungsschein zurücklassend. Sie hatten keinen anderen Befehl, als sich mit Hilfe der Bauern gut versteckt zu halten. Sie hörten natürlich die feindliche Artillerie, aber Vater kannte die Gegend so gut von früher, dass er sie mit viel Glück umgehen konnte. Die T34 kamen erst später, nachdem er mit den Männern durchgeschlichen war, alles Gerät ausser den Zugpferden zurücklassend.

Als er mit seinem Adjutant nördlich von Birkenwerder zur Berliner Strasse durchgestossen war, um zur Familie zurückzukehren, waren die Brücken mit Sprengladungen vermint, und die SS drängte alle Menschen energisch zurück. Da es plötzlich so aussah, als würden sie auserkoren, eine völlig unzureichende Panzersperre zu bewachen, nahmen sie Kurs nach Nord-Westen in Richtung Elbe und konnten auf Schleichwegen wiederum der russischen Umzingelung der Hauptstadt entkommen. Nur nachts unterwegs, tags in Scheunen versteckt, erreichten sie schliesslich die Elbe. Er will von der Überquerung, bei der sie fast ertrunken wären, nichts sagen. Nähere Einzelheiten erfahren die Schwestern erst nach Jahren, als der Adjutant Vater einmal besuchen kommt.

Und noch später am Abend kommt Onkel Robert, zum Glück lachend, mit dem Handwerkskasten hinauf ins Gästezimmer, wo eines der Betten zusammengekracht ist, weil die vierzehn- und sechzehnjährigen Mädel auf den Matratzen Sprungübungen gemacht hatten. Tante steht in der Tür und strahlt über das ganze Gesicht.

“Na, hat das so richtig Spass gemacht? Keine Bange, das kriegt Onkel Robert gleich wieder hin.” Und richtig, ein paar Bolzen werden eingebohrt, und die Matratze sitzt wieder intakt auf den Sprungfedern.

“Aber macht das man lieber nicht nochmal,” mahnt er dann sanft.

“Euer Vater ist endlich eingeschlafen,” sagt Tante Marianne, “das wird ihm gut tun. Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen —.” Doch, sie konnten.

Als sie am nächsten Morgen in die Küche kommen, ist die Tante mit einer Hausgehilfin dabei, für Mutti kleine Päckchen mit Nahrungsmitteln in einen Leinensack zu packen. Ein in der Nachbarschaft hängengebliebener Berliner will heute seinen zweiten Versuch machen, über die grüne Grenze nach Hause zu kommen. Er hat versprochen, die Schätze für Mutti mitzunehmen. Die Mädel geben ihm Tips für die Grenze und bereiten ihn darauf vor, was ihn in Berlin erwartet. Die meisten Waggons sind zerstört, Schienenstränge von den Sowjets abgebaut und nach Osten verschickt worden. Die S-Bahn fährt nur sehr sporadisch, aber man fährt immerhin wieder, auch einige Busse sind intakt geblieben.

Zum Frühstück haben die Mädel Haferbrei gegessen, mit Butter und Melasse, wie früher, und dazu gibt es Tee. Heute sind sie alle bei Freunden der Familie eingeladen, die an der Freude teilhaben wollen. Es ist fast zu viel Glück auf einmal. Aber am Abend stehen sie mit Vater im Garten, die Arme um seine Schultern und freuen sich an dem Blick über die Dächer, die rosa Wolken in der Dämmerung. Frieden.

Er muss aber nun zunehmen, sagt die Tante wieder. Er hat 35 Pfund abgenommen und sein Gesicht ist hager.

Am nächsten Morgen ist Grossmama die einzige, die noch am Frühstückstisch sitzt, als die Schwestern herunter kommen. Sie giessen ihr frischen Tee ein. Aber wo sind die anderen? Tante Marianne hat die Kinder zum Zahnarzt gebracht. (Zum Zahnarzt? Ist das nicht ein Irrtum? Nein, es hat, völlig friedensmässig, seine Richtigkeit.) Vater und Onkel Robert sind mit in die Stadt gefahren.

Als die Tante zurück ist, nimmt sie die Mädel mit in die Küche.

“Eure Mutter hat etwas sehr Merkwürdiges getan,” beginnt sie. Sie sieht die Nichten nicht an, während sie die Frühstücksteller wegstellt.

“Ich möchte nur wissen, wie sie sich die Zukunft vorstellt,” sagt Tante Marianne scharf. “Sie muss doch wissen, dass kein Pfennig Geld da ist. Und euer Vater hat doch vorerst keine Aussicht, einfach wieder zu arbeiten. Das Institut ist zweimal ausgebombt, die ganze Fachbibliothek und alle Akten sind hin…”

Die Mädel wissen das alles. Und Mutti weiss es auch.

“Sie kommt nicht gut zurecht,” sagt Anna, “ hat schon lange grosse Schwierigkeiten damit, die täglichen Dinge zu bewältigen. Verstehst du?”

“Das ist mir bekannt,” sagt die Tante, “das ist nichts Neues. Aber eine derart hirnverbrannte …” die beiden starren sie erschrocken an und verdrücken sich aus der Küche. Aber nach einem kurzen Moment kommt Nadja wieder und sagt, sie hätte ganz vergessen, den Piepmatz zu füttern, eine Aufgabe, die sie gestern übernommen hatte.

“Mutter hat Furchtbares, Höllisches mitgemacht, “ beginnt sie. “Vor sechs Wochen war sie überzeugt, wir würden alle umkommen, wollte selbst am liebsten sterben! Ich glaube nicht, dass du dir je vorstellen kannst, wie das für sie war. Ich meine, wir haben kein Recht, sie einfach für verrückt zu erklären —”

“Und du? Haben die Russen-?”

“Nein, wir hatten Glück, so ein Glück. Sie haben mich an die Wand geschleudert, gegen das Philodendron, und ich habe mir den Kopf verletzt, aber ansonsten haben sie mich in Ruhe gelassen. Und Anna konnte einem entkommen und sich im Nachbarhaus verstecken. Nur Mutti, sie —”

“Pass mal auf, wir werden das heute abend ausführlich besprechen, wenn euer Vater und Onkel Robert dabei sind. Lass es uns aufschieben.”

Die Schwestern nehmen die Kleinen mit nach draussen, ein Schloss im Sandkasten bauen. Durch das Kellerfenster erspäht Anna zwei Körbe voll Kartoffeln.

“Mögt ihr eigentlich Kartoffelpuffer?” erkundigt sie sich.

“Jaaaaaaaa—” kommt die Antwort, “aber Robert will sie nur mit ganz viel Zwiebeln, und wir wollen sie mit ganz viel Appelmus.”

“Sag nicht immer ‘Robert’,” moniert die grosse Schwester, “Grossmama regt sich auf, wenn du das sagst.”

“Na, ihm ist es aber egal.”

“Sag einfach ‘Pappa’, ja?”

Mit Sand in Haar und Sandalen werden sie von den grossen Kusinen durch den Wald auf den Berg getragen. Die galoppieren Huckepack, bis sie ganz ausser Atem sind, und dann rennen die Kleinen einem Schmetterling hinterher und pflücken Akelei für Mutter.

Abends gibt es eine leckere Linsensuppe, mit Frankfurter Würstchen auf jedem Teller und Butterbrot dazu. Und zum Nachtisch Erdbeeren. Erdbeeren!

Der Grund warum Onkel Robert und Tante Marianne so viel zu essen im Hause haben, ist einfach. Bevor das Geschäft und Warenlager ausgebombt wurden, hatten sie vorsichtshalber einige Ballen Anzugstoffe, Seiden und Gabardine im Keller ihrer Wohnung gelagert, und Knöpfe, Gürtel und anderes Zubehör. Für den Fall der Fälle. Und nun kamen Leute, nach Einbruch der Dunkelheit, und brachten ihnen einen Schinken, ein Huhn oder eine Ente im Tausch für einen Mantelstoff oder ein Sommerkleid für ein Kind. Landleute hatten immer schon eher Zugang zu Nahrungsmitteln, auch wenn sie das meiste ihrer Ernte an die Verteilungszentralen liefern mussten.

Nun gilt es wieder, das Tauschhandelssystem von einst.

Aber Onkel und Tante leben auch nach der Devise, dass die die etwas haben, mit anderen teilen müssen. Der Nachtwächter ist beim Bombenangriff umgekommen. Die Tante schickt nun immer mal ein Paket hinüber zu seinen Hinterbliebenen.

Was soll nun werden?

Am Abend, nachdem die Kinder gebadet und zu Bett gebracht worden sind, findet sich eine ernste Runde im Wohnzimmer zusammen. Es liegen keine Spiele auf dem Tisch und keine Gläser. Und Grossmama hat ihr Strickzeug in ihrem Zimmer gelassen. Vaters Augen sind rot umrandet vor Müdigkeit, und er sieht schlecht rasiert aus.

“Anna und Nadja,” hebt er an, “Ich hoffe, dass ich euch nicht zu sagen brauche, “ und hier macht Vater eine Pause, “ich weiss, dass ihr genau versteht, wie lieb ich euch habe, wie teuer ihr mir alle seid, auch eure Mutter, aber in meiner jetzigen Lage bin ich ausserstande, für meine Familie zu sorgen, hier oder anderswo. Obendrein habe ich nicht die geringste Ahnung, wann ich damit rechnen kann, wieder mit der Arbeit zu beginnen. Wir suchen nach Lösungen. Tante Marianne, Onkel Robert und Grossmama helfen mit. In der Zwischenzeit meinen wir aber, dass ihr beiden hier bleiben und wieder zur Schule gehen solltet. Onkel und Tante haben uns grosszügig angeboten, uns hier Obdach zu gewähren, bis wir wieder auf eigenen Füssen stehen können.”

“Darauf kommen wir gleich zu sprechen,” sagt Tante Marianne schnell.

“Sobald die Post wieder funktioniert, werden wir ihr jede Woche kleine Fresspakete schicken und auch genug Geld, dass sie die paar Dinge bezahlen kann, die es auf Karten gibt.” Anna hat die Ellbogen aufgestützt und verbirgt ihr Gesicht in den Händen.

“Ich kann nicht einfach hier bleiben, “was soll denn mit Mutti werden und den Geschwistern?” sagt sie endlich. “Ihr könnt euch nicht vorstellen, was da los ist. Sie ist einfach übermannt. Als Tatjana noch da war, da hatte sie eine Art junge Schwester an der Seite, eine Vertraute. Aber jetzt braucht sie mich wirklich wieder. Korinna ist ja noch nichtmal zwölf! Wir müssen nur einen besseren Weg finden, über die Grenze zu kommen. Es muss eine andere Tour geben.”

“Ich lasse nicht zu, dass du nochmal in diese gefährliche Lage kommst,” sagt Vater emphatisch. “Das kommt nicht in Frage. Es ist das Risiko nicht wert.”

“Ihr könnt euch ja nicht vorstellen, was euer Vater für Qualen ausgestanden hat mit der Sorge um euch,” sagt Grossmama leise. “Er wähnte euch doch alle tot.”

“Und wir haben gedacht, wir sehen ihn nicht wieder. Mutti hat gesagt, die Russen hätten die ganze Einheit gefangen genommen und nach Sibirien geschickt. Sie war so glücklich, als der Onkel Wernig gekommen ist, der alte Nachbar, und erzählt hat, er hätte dich aus der Strassenbahn gesehen. So froh und erleichtert. Ich weiss bloss, dass ich wieder zurück muss. Vielleicht kann ich ja dort wieder zur Schule gehen.” Niemand stellte mehr Fragen, und das war gut so.

So wurde entschieden, dass Anna da bleiben würde bis ein ordnungsgemässer Passierschein von den britischen Behörden zu haben war. Onkel würde ein Auge drauf haben.

Tante Marianne hält dieser Tage Ausschau nach einem Paar traumhafter Strümpfe, für ein Brautkleid passend. Braut und Bräutigam, er früher bei den Minensuchern, sie beim Arbeitsdienst, waren nie lange genug am selben Fleck um ‘richtig’ zu heiraten. Sie hatten beide als Lehrlinge vor Jahren bei Onkel und Tante angefangen, und nach wochenlangen Küssen zwischen den Gabardineballen und der Knopf- und Schnallenauslage hielt er richtig altmodisch um ihre Hand an, und am nächsten Tag war er schon weg, um ‘unserem geliebten Führer’ an der Front zu dienen.

Man hatte jetzt ein enges, ärmelloses Hochzeitskleid in der Familie aufgetrieben, das unglücklicherweise Tante Mariannes famose Seidenstrümpfe aus den zwanziger Jahren verdeckte. Glücklicherweise wiederum auch die etwas abgelatschten, nachgeweissten Sandaletten.

Nun der grosse Tag. Tante und Onkel waren natürlich eingeladen, (und hatten einen üppigen Fresskorb geschickt, sehr begehrt in jenen Tagen). Anna und Nadja standen mit anderen jungen Leuten draussen vor der Kirche und wollten ein paar Blümchen auf den Weg des Paares werfen. Die Braut war sonnengebräunt, der Bräutigam hochrot, und ihr Lächeln wirkte etwas nervös, als sie den lauten Beifall und die Glückwünsche des Spaliers entgegennahmen. Die Orgel donnerte, die Glocken übertönten jeden Laut, wie beim “Happy End”. Eigentlich sollte es eher wie ein “Happy Beginning” wirken, dachte Anna.

Dann bemerkten sie und Nadja das Blut. Die Braut hatte den rechten Arm mit dem Blumenstrauss gehoben, um einer Bekannten zuzuwinken, und da sahen die Mädel das dünne rote Rinnsal, direkt unter der Achsel. Die zarte Höhle mutete an, als sei das Brautpaar am Altar einigen säbelfechtenden Gästen zu nahe getreten. Auch das Kleid war bereits in Mitleidenschaft gezogen. Eine feine rötliche Kurve zeichnete sich deutlich ab, auf dem Weg zum Dekollete.

Verwundert gingen die Mädel nach Hause. Tante und Onkel kamen drei Stunden später heim als angekündigt, Onkel singend, Tante lachend. Von der verwundeten Braut ganz abgesehen, hatten alle einen Riesenspass gehabt. Gar nicht typisch für sie brach Tante Marianne immer wieder in lautes Gegluckse aus, erzählte dann aber, dass die Schwester der Braut, die bei den Amerikanern in Heidelberg arbeitete, sie überzeugt hatte, sie müsse sich unter den Achseln rasieren. Das einzige Werkzeug, das gefunden werden konnte, war eine Rasierklinge.

Der Bräutigam würde so überrascht sein. Er war es, nicht freudig, aber überrascht. Die andere Achsel blieb übrigens intakt, blond- fusselig und ganz unversehrt.

Drei Tage später kam Vater von einem Ausflug zum Bahnhof zurück, vom schwarzen Markt. Er war seine gute Armbanduhr los, trug aber eine alte Reiseschreibmaschine herein, namens ‘Admiral’, mit doppelter Umschaltung, nebst einem kleinen Säckchen mit Wasserfarben und zwei gebrauchten Pinseln. Seit ihrem zehnten Lebensjahr hatte Anna schon manchmal Portraitversuche mit weichem Bleistift gemacht, hatte die Familienmitglieder genötigt, stillzusitzen, im Profil, weil das leichter war.

Sie war immer am stricheln, skizzieren oder malte kleine Szenen nach Art der Kinderbuchkunst.

Im Wintergarten wurde nun ein Tisch für sie hergerichtet, wo sie kleine Artikel herzustellen begann, wie Geschenkkärtchen, Lesezeichen, Tischkarten und ähnlich Unnützes, angesichts der Zeiten in denen man lebte. Die kleine Auswahl wurde einer Drogerie in der Nähe des Bahnhofs zum Verkauf angeboten, und die verkaufte sich wie die bewussten warmen Semmeln.

Niemand konnte sich erklären, warum die Leute handgemalte Lesezeichen auf Bütten kauften. Vielleicht war es einfach so, dass man so lange überhaupt nichts mehr hatte bekommen können, und diese Miniaturen waren eindeutig ‘Unikate’.

Als sie eines Tages eine frische Bestellung ablieferte, hatte sich gerade eine Dame erkundigt, wer die Kunstgewerblerin sei. Und Anna wurde ihr prompt vorgestellt.

“Ich bin sehr beeindruckt von dem, was ich hier sehe,” hatte die Dame gesagt. “Das ist frische, originelle Arbeit. Hätten sie Lust, bei mir Stunden zu nehmen? Ich bin Malerin und habe ein paar Privatschüler. Sie könnten in einer Gruppe mitmachen. Es kostet nicht viel. Falls sie Lust haben.”

Anna hatte so viel Lust, sie rannte den ganzen Berg hinauf, um den anderen von ihrem Glück zu berichten.

Tante Marianne machte ihr auf.

“Rate mal, wer da ist,” sagte sie. “Onkel Robert spielt zweimal im Monat Karten, mit Freunden aus dem Tennis club. Einer hat eine überraschende Idee, die Dich interessieren wird.”

Das Esszimmer war völlig verraucht. Um den Tisch sassen vier Männer in Hemdsärmeln, mit geröteten Gesichtern. Sie hielten gefächert Karten in den Händen und hauten abwechselnd je eine auf die Tischplatte. Anna und Nadja hatten ihren Vater in ihrem Leben noch nie Karten spielen sehen. Der Berliner Haushalt hatte keine Spielkarten gekannt, aber hier sass er mit einem verschmitzten Gesichtsausdruck und wartete auf seine Chance, etwas Unerlaubtes zu tun, und hatte offensichtlich Spass daran. Es wurden wunderliche Sprüche zum Besten gegeben, wie zum Beispiel,

“Vor der Apotheke in die Hosen geschissen!” Das war der Onkel, und sie lachten alle, als er etwas auf den Tisch drosch.

“Komm rein, komm rein, Anna,” sagte Onkel Robert. “Das ist die Patentochter meiner Frau, und Phillips Älteste,” und dann stellte er einen der Kartenspieler vor, der bei der Bahnverwaltung beschäftigt war. Nun wurde Vaters Gesicht auf einmal wieder ernst und skeptisch.

“Aha, das ist sie also,” sagte der Besucher, “die andere Grenzgängerin. Glück gehabt, dass sie durchgekommen sind. So viele müssen wieder zurück.” Und er lachte sie an.

“Sollen wir diese Runde fertig machen und dann reden, oder?”

“Nein, nein, wir können später weiterspielen,” sagte Onkel Robert. “Das ist so wichtig, wir wollen’s alle hören wenn du noch nüchtern bist.” Onkel saugte an einer Zigarre. Anna setzte sich, sehr neugierig auf die Nachrichten.

“Ich habe mit der Eisenbahn zu tun,” sagte der Besucher bescheiden. “Bist du schonmal auf einem Güterbahnhof gewesen?”

“Ja schon, noch gar nicht lange her,” sagte Anna, “es war wie eine Garage für die Loks, und Kohle und Wasser gab’s gleich davor, an einer Rampe.”

“Gut. Hast du dir mal die Loks näher angesehen? Richtig angesehen?”fragte er. Aber Anna konnte sich an nichts dergleichen erinnern.

“Bevor wir anfangen, Robert, Phillip: Dieses Gespräch hat nie stattgefunden. Ich habe nie gesagt, was ich euch gleich mitteilen werde, und ich war überhaupt nicht erst hier. Klar?”

“Gemacht,” sagte Onkel Robert. Anna starrte ihn überrascht an. Als Nadja hereinkommen wollte, wurde sie auf später vertröstet.