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Juni 1945
Über die grüne Grenze

Nach dem Theaterbesuch würden Fritz und Anna sich fünf Monate nicht wiedersehen.

Am Morgen danach klopfte es an der Tür, und ein abgemagerter, dürftig gekleideter Mann stand in der Diele, von Korinna begrüsst.

“Onkel Wernig,” rief sie, “du bist es ja wirklich. Foffie hat erzählt — Mutti, Onkel Wernig ist hier. Komm herein, komm, setz dich.” Und der Nachbar, den sie seit Jahren über den Zaun gegrüsst hatten, kam und setzte sich. Nein, er wollte keinen Pfefferminztee. Und er konnte sich nicht aufhalten, aber — hatten sie von ihrem Vater gehört?

Nein, sagte Mutter, sie habe keine Vorstellung wo er sein könnte. Er sei mit seiner Volkssturmeinheit am Nachmittag vor dem Russeneinmarsch vorbei gekommen, aber sie hätten bald abrücken müssen. Seitdem …

“Also, ich habe mit mir gekämpft, ob ich ihnen das überhaupt berichten sollte, weil ich meiner Sache nicht sicher bin, aber meine Tochter meint, ich sollte einfach sagen, was ich gesehen habe und es ihnen überlassen, sich einen Reim daraus zu machen.” Mutter beugte sich vor.

“Also, ich wurde aus einem englischen Gefangenenlager entlassen und war zu Fuss unterwegs, hier und da ein bisschen gefahren, zur grünen Grenze auf dem Weg nach Berlin, und da kam ich durch Hildesheim, in der Nähe von Hannover—”

“Ja, und?” fragte Mutter und hob die Hände ans Gesicht. “Meine Schwester wohnt mit ihrer Familie dort.”

“Ach, wirklich?” Nun wurde Onkel Wernig aufgeregt. “Ich fuhr mit der Strassenbahn in Richtung Hauptbahnhof, vollgepackt natürlich, aber ich konnte aus dem Fenster sehen, und da war dieser Mann auf dem Bürgersteig. Ich konnte ja nur sein Profil erkennen und ganz kurz, aber er sah genau aus wie ihr Herr Gemahl. Ich hätte schwören können, — aber die Strassenbahn hielt ganz lange nicht an, und als ich endlich aussteigen und zurücklaufen konnte, war er verschwunden. Da bin ich zum Bahnhof und in den nächsten Zug zur Grenze. Meinen sie?”

“Oh ja, ganz bestimmt. Ich bin ganz sicher, dass es mein Mann war. Das ist eine so wunderbare Nachricht. Ich bin ja so erleichtert. Haben sie vielen herzlichen Dank, dass sie gekommen sind und uns Hoffnung gebracht haben. Wie lieb von Ihnen.”

“Die Stadt ist schwer beschädigt. Es war anscheinend nur ein einziger Angriff, aber die Altstadt hat gebrannt wie Streichhölzer, sagen die Leute. Ist bei ihrer Frau Schwester alles in Ordnung? Haben sie noch Nachricht bekommen?”

“Ja. Das Geschäft und Warenhaus sind zerstört worden, aber nicht ihre Wohnung am Stadtrand. Für den Moment wird es gehen. Oh, Herr Wernig— ich bin ja so froh!”

“Ich muss nach Hause. Bald soll die Post wieder funktionieren, und dann werden sie sicher gleich von ihm hören.”

Korinna und Foffie begleiteten Onkel Wernig nach Hause. Als sie zurück kamen, waren Mutti und die Schwestern am Pläne-Schmieden. Anna und Nadja sollten über die grüne Grenze gehen und Vati suchen. Sie waren ganz sicher, dass es Vati gewesen war, und er würde sich solche Sorgen um sie machen.

Zuerst galt es, sich zu erkundigen, ob Passierscheine zu haben waren. (Die Auskunft lautete NEIN, und niemandem war es erlaubt, sich der Grenze zu nähern.) Dann würden sie weiter planen.

Am nächsten Morgen traf Nadja einige Mädel beim Anstehen, deren Tante am Wochenende in die Britische Zone fahren wollte. Es war schon das zweite Mal. Die Mädel würden sie fragen, ob Anna und Nadja mitfahren könnten. Das wollte die Tante nun nicht, wegen der Verantwortung, aber sie traf sich mit ihnen und gab ihnen gute Ratschläge.

“Nehmt nur einen ganz kleinen Rucksack voll Proviant mit,” sagte sie. “Und zieht feste Kleidung an, Turnschuhe und Trainingshosen und langärmeligen Pullover. Ihr werdet auf dem Bauch kriechen und könntet beschossen werden. Keine Uhr mitnehmen und keinen Ausweis. Wenn ihr angehalten werdet, sagt einfach, ihr seid drüben zu Hause und auf dem Weg dorthin. Eure Papiere sind geklaut worden. Nehmt nur wenig Geld und zahlt ja keine Bestechungsgelder an Leute die vorgeben, euch rüberzuschleusen. Das könnte schief gehen. Das Beste ist, ihr bleibt gleich zu Hause.”

“Das geht nicht. Aber vielen Dank für ihre Ratschläge!”

“Viel Glück, Mädels. Ihr werdets brauchen.”

Am nächsten Tag kauften sie Fahrkarten für den Bummelzug zur Grenze. Es war durchaus erlaubt bis ins Grenzdorf zu fahren, aber dann.

“Es wäre das Beste, wenn ihr in der Dämmerung erst ankommt,” hatte die Tante geraten. “Dann sieht man euch nicht im Dorf herumstehen, wo ihr sofort als Fremde auffallt.” Man müsse durch das Dorf durch und dann die Kalihalden hinauf und oben robben und wieder runter. Sie meinte, die genaue Grenze verliefe irgendwo direkt am Kalibergwerk, oder gleich dahinter, leicht patroullierbar, da man von oben das Gelände drumherum sehr gut einsehen konnte.

“Sie schiessen scharf,” hatte die Tante gesagt, “und sie wollen unbedingt den illegalen Grenzverkehr unterbinden. Es ist ernst.”

Als sie von Mutti, Korinna und Foffi Abschied nahmen, konnte Nadja nicht wissen, dass sie die drei jahrelang nicht wiedersehen sollte. Aber es war kaum etwas zu essen im Hause. Tägliches Anstehen produzierte weiter grosse Enttäuschungen. Sie mussten im Westen Hilfe holen.

Lilly war zum Abschied gekommen, umarmte die beiden, weinte und versprach für sie zu beten. Sie war noch schmaler geworden, auch in ihrem Gesicht wirkten ihre grossen Augen nun noch mehr besorgt. Anna hielt sie lange fest im Arm.

Der Zug war überfüllt. Sie hofften, dass die sechs Orte an denen er halten sollte, einige dieser Mitreisenden absorbieren würden, aber das sollte sich nicht ereignen. Hunderte von Menschen, Männer, Frauen und Kinder, in Lumpen gehüllt, Bündel schleppend, ergossen sich auf den kleinen Bahnhof der Endhaltestelle. Eine ähnliche Menge wartete auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig, die Fahrt nach Berlin anzutreten, entweder heil über die Grenze gekommen oder weil sie den Versuch aufgegeben hatten, über die Halden in den Westen zu gelangen.

Noch etwa eine Stunde bis zur Dämmerung. Die Mädel beschlossen, nicht mit den vielen übrigen Fremden durch den Ort zu laufen, sondern auf einem schmalen Weg aussen herum zu gehen, wo sie einen dicht bewachsenen Graben erkennen konnten. Hier wollten sie die Dunkelheit abwarten.

“Willst du mir im Ernst sagen, dass wir an diesem steilen Hang hoch müssen da vorne? Die gehen ja da oben ihre Strecke ab, zwanzig Meter hoch, können uns alle genau sehen, brauchen nur abzudrücken,” sagte Nadja. “Siehst du sie? Es wimmelt von Posten.”

“Natürlich sehe ich sie,” sagte Anna ungeduldig. Sie war im Moment am meisten verdrossen, dass sie hier in ihrem Versteck von vielen anderen Grenzgängern aufgestöbert wurden, die sich dazuhockten. Einige rauchten sogar offen.

“Aber ich möchte doch gern wissen was die Russen da vorne eigentlich machen. Kuck mal da rüber zur Strasse, wo die Girlanden aufgehängt werden. Siehst du’s?” Lautsprecher spielten russische Volkslieder, ab und zu unterbrochen von munteren Stimmen die Parolen verlasen. Die Posten oben auf den Halden schossen ab und zu in die Luft, und es wurde immer lauter um sie herum.

Unvermittelt wurden sie von oben angesprochen. Eine barsche Stimme forderte sie auf, aus dem Graben zu kommen und sich am Rand aufzustellen. Der russische Offizier hatte seine Hände auf dem Rücken verschränkt und sprach mit Hilfe eines Dolmetschers.

“Ihr müsst alle sofort zurück zum Bahnhof, oder wir schiessen,” sagte der gut gelaunt. “Gehen sie jetzt zurück, nicht da drüben hin. Die Engländer schiessen sie auch. Es ist verboten, dahin.”

Der Offizier zeigte nachdrücklich in Richtung Bahnhof und ging davon.

Der Dolmetscher wartete bis er ausser Sicht war und flüsterte dann,

“Zwei prima Uhr, und sie können alle gehen.” Niemand rührte sich. Er wartete. Einige streiften die Ärmel hoch und zeigten auf das nackte Handgelenk , um ihm zu bedeuten, dass keine Uhren mehr zu haben seien.

“Meine Uhr ist schon in Moskau und lernt Russisch,” sagte eine Frau. Der Dolmetscher lachte.

“Zwei prima Uhr,” wiederholte er dann fast flehend. Da zog eine Frau einen Ring vom Finger und reichte ihn dem Mann.

“Es ist Silber,” sagte sie, “aber das ist alles, was ich noch habe. Ehrlich.”

Ihr Retter prüfte den Ring, steckte ihn dann in die Tasche und entfernte sich demonstrativ, hinter dem Rücken mit den Fingern Richtung Westen wedelnd.

“Das war sehr grosszügig von ihnen,” sagte Anna, “wir schulden ihnen alle Dank. Wir hatten wirklich nichts was wir ihm geben konnten…”

“Ich weiss ja,” sagte sie. “Es war kein sehr edles Stück, aber wir sind noch lange nicht sicher. Lange nicht. Ich komme schon zum zweiten mal hier durch, und es ist alles ganz anders als das erste mal vor drei Wochen. Es sind so viele Soldaten unterwegs, die Musik, die Dekorationen. Ich wette die wollen was feiern, da oben Posten abziehen. Ich werde jetzt so tun, als ginge ich zum Bahnhof zurück, und dann, wenn’s dunkel wird, gehe ich im grossen Bogen aussen rum wieder her.”

“Würde es ihnen was ausmachen, wenn wir mitkommen?” fragte Anna, “Oder möchten sie lieber alleine sein?”

“Nein, kommen sie ruhig mit. Wir verstehen uns doch, dass ich keine Verantwortung für sie übernehmen kann, und ich könnte mich auch irren. Ich habe bloss so ein Gefühl.” “Wir lassen’s drauf ankommen,” sagte Nadja.

“Wir haben Glück mit dem Wetter,” sagte die Frau, “Bei Vollmond können die da oben jeden Regenwurm ausmachen. Es sind ungefähr 25 Meter platte Fläche, die man krauchen muss, und dann wieder steil runter auf der andern Seite. Wenn uns jemand anruft, “STOJ”, sofort aufstehen, ganz still stehen und vorsichtshalber die Hände heben.”

“Gemacht,” sagt Anna, “wir heissen Nadja und Anna,” und sie streckten ihr die Hände hin.

“Sie können mich ruhig Maria nennen,” sagte die Frau. “Können sie schwimmen?”

“Ja. Warum?”

“Da drüben ist ein Fluss, da müssen wir rüber, es geht nicht anders. Aber letztes Mal war das Wasser sehr ruhig. Es ist nicht tief, aber kalt. Die Aue ist es, glaube ich. Man kann hinüberwaten.”

“Stimmt es, dass die Engländer drüben auch schiessen?” fragte Anna.

“Nein, ich glaube kaum. Mir ist jedenfalls nichts passiert. Es ist nur ein langer Weg zu Fuss.”

Sie waren wieder beim Bahnhof angekommen, beide Bahnsteige gedrängt voll mit enttäuschten Menschen. Der nächste Zug war erst in einer Stunde zu erwarten.

“Jetzt bleiben wir erstmal hier,” sagte Maria, und sie mischten sich unter die anderen Reisenden.

Die Mädels setzten sich auf einen herrenlosen alten Autoreifen, kauten an ihrem Brot und tranken etwas Wasser. Musik und Trubel aus dem Ort waren bis hierher zu hören. Soldaten in Jeeps fuhren wild herum und schwangen Flaschen in der Luft.

Endlich kam der Zug und fuhr mit den meisten der Leute auf dem Bahnhof wieder ab. Es war nun dunkel, und die drei machten sich mit je drei Meter Abstand auf den Weg, um den Ort herum. Als sie an einer Scheune vorbeiliefen, bellte ein Hund bis ein Mann etwas aus der Tür rief. Vorsichtig schlichen sie weiter, die Strecke schien ihnen viel länger als am Nachmittag. Neben einem Hof blieben sie stehen und hielten den Atem an, als Maria ihnen ein Zeichen machte. Nun hörten sie Schritte die zögernd näher kamen, hielten, dann wieder weiter gingen. Sie drückten sich flach gegen die Wand. Jetzt nieste jemand, und dann noch zweimal. War ihnen jemand auf der Spur? Die Schritte entfernten sich.

Maria wählte einen Platz an der Halde der Unebenheiten in der Wand aufwies, hohle Stellen, in denen man notfalls Deckung suchen konnte.

Sie begannen ihren Aufstieg, relativ leicht am Anfang, dann schwerer, als die Wand steiler wurde. Da rutschten sie ein paarmal rückwärts. Im Moment konnten sie keinen Posten erkennen, hatten aber mehrere Schüsse gehört nachdem sie zu klettern begannen. Sie würden nicht sprechen und Schüsse überhören, es sei denn, sie würden direkt angehalten. Eine nach der anderen erreichten sie die obere Fläche und spähten vorsichtig über den Rand. Da war die zu überquerende Strecke, die sehr weite - sie sahen zwei Posten, die in ihrem Abschnitt patroullierten. Einer war rechts etwa 20 Meter von ihnen entfernt. Er hielt an und rief etwas, in dem Moment in dem sie sich duckten, feuerte sein Gewehr ab, drehte sich um, rief wieder etwas Unverständliches und ging in entgegengesetzter Richtung davon.

Die Mädel hingen mit geschlossenen Augen zitternd am Haldenrand, die Schuhe fest in die Wand gestemmt.

“Warum haben wir uns das eingebrockt? Was machen wir hier?” sagte Anna leise.

“Jetzt!” flüsterte Maria und schwang sich hoch über den Rand und kroch auf allen Vieren in wildem Tempo voraus. Die Schwestern machten es ihr nach. Sie meinten im Dunkeln zu erkennen, dass die Posten weiter weg liefen, jeder in entgegengesetzter Richtung. Nachdem sie etwa 10 Meter so bewältigt hatten, legte sich Maria flach auf den Bauch und robbte den Rest der Strecke, man konnte nie wissen, wann die Aufpasser umkehren und sie sehen würden. Endlich an der anderen Seite angekommen, fühlten sie mit den Händen im Dunkeln, ob der Abstieg sicher sei, und rutschten langsam und vorsichtig hinunter. Sie hielten sich bei den Händen und überqürten ein Stück Feld, und bald hörten sie schon das Wasser der Aue, plätschernd wie ein Bach. Sie knieten sich am Ufer nieder und prüften die Temperatur. Dann zogen sie Schuhe und Socken aus und wateten über eine Schneise von grossen Steinen, Holzplanken und anderem Gerät, hier und da bis zu den Knien im Wasser. Der Fluss war nicht breit, und zähneklappernd langten sie am anderen Ufer an. Ein Gefühl der Euphorie überkam alle drei, da Maria meinte hier seien sie schon auf westlichem Gebiet und es könne ihnen nun nichts mehr passieren. Dann hörten sie auf einmal wieder drei Nieser im Dunkeln, und hofften inständig, dass irgendwo hier doch noch einige der Mitreisenden heil über die Grenze gekommen waren.

Sie gingen nun auf einem Feldweg entlang. Es war nirgends ein Zeichen irgendwelcher militärischer Kontrollen zu entdecken. Eine unbeschreibliche Müdigkeit überfiel sie, aber sie wagten nicht, einzuhalten. Wie, wenn das doch noch nicht die richtige Grenze dort oben gewesen war? Aber Maria schien sicher. Da tauchte vor ihnen ein Haus auf, aus dem ein Höllenlärm nach aussen drang. Es waren Kompressoren der Elektrizitätswerke. Sie fanden die Tür unverschlossen, gingen hinein und legten sich auf den kalten Steinboden, wo sie sofort einschliefen.

Als sie am nächsten Morgen unter den Bäumen die Landstrasse entlang wandern, mit grünen Wiesen auf beiden Seiten, merken sie schon den Unterschied. Als sie an einem Hof um Wasser bitten, bekommen sie Gläser mit frischer Milch und werden im Pferdewagen bis zur nächsten Bahnstation mitgenommen. Die Menschen hier fühlen sich sicher, das Leben wird wieder von den Jahreszeiten bestimmt, wie früher.

Obwohl sie durch den Brief der Tante aus Hildesheim im März schon vorbereitet waren, ist die Zerstörung der ihnen gut bekannten Innenstadt doch ein schrecklicher Schock für die ermüdeten Mädel. Und in nur fünfzehn Minuten ist all dies passiert! Sie stolpern durch die Ruinen der Altstadt, ohne die Strassen wiederzuerkennen, aber erwischen endlich doch eine Strassenbahn. Am Stadtrand ist zum Glück alles intakt, eigentlich unverändert seit ihrem letzten Besuch vor etwa zwei Jahren. Sie laufen den Berg hinauf. Jedoch am Ende der Strasse hält Anna ein.

“Was sollen wir denn nun sagen?” fragt Nadja. “Wir kommen hier einfach so an…”

“Nichts,” sagt Anna, “ich habe nicht vor, irgend etwas Profundes von mir zu geben. Was kann man schon sagen? Wir haben sie lieb. Sie haben uns lieb. Wir sind eine Familie.”