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Juni 1945
“Wir Heissen Euch Hoffen”

Fritze steht im frisch gebügelten Nehru-Jackett vor dem Renaissance Theater, die Karten in der Hand, und hält nach Anna Ausschau.

Da kommt sie schon, auch sie in Weiss, einer Jacke, die neuerdings an Mutter rumschlottert.

“Es ist gar nicht Der Raub der Sabinerinnen,” ruft Fritze schon von weitem, “was Neues. ‘Wir heissen Euch hoffen.’ Noch nie von gehört.”

“Ich auch nicht,” sagt Anna, “aber klingt schon mal gut. Lassen wir uns überraschen.”

Sie gehen hinein. Die Vorstellung ist ausverkauft. Das Theater ist notdürftig zusammengeflickt, aber genau wie die Intendanz sind die Berliner der Meinung, es sei wichtiger, dass etwas auf der Bühne vor sich gehe, als schmucke Lüster und kratzerfreie Putten unter der Decke anzubringen.

In der Pause sprechen sie nicht miteinander, stehen in Gedanken im Foyer zusammen.

Als der Vorhang fällt, steht das Publikum langsam auf und klatscht sehr laut und dankbar Beifall. Zum erstenmal erleben sie, dass die Schauspieler an die Rampe treten und den Zuschauern ihrerseits applaudieren.

Wie früher im Krieg laufen sie lange in den zerbombten Strassen herum, kommen schliesslich an einen Park. Fritze kennt sich hier aus.

“Schont Eure Anlagen” mahnt ein arg mitgenommenes Schild neben zwei metallenen Überbleibseln früherer Bänke. Die Berliner hatten Brennholz draus gemacht. Fritze und Anna nehmen Platz, diesmal zwei Meter voneinander getrennt, da sehen sie bekannte Gestalten.

Picco malt mit einem Stöckchen in einer Pfütze, ‘der Kleene’ steht daneben und raucht, und ein Dritter ist Anna unbekannt. Langsam schlendern sie herüber.

“Tach-chen” sagt Picco artig, und es klingt ungewohnt.

“Heil Kräuter,” hatten sie zuletzt gesagt, und “bleib übrig.” Wie lange schien das jetzt schon her zu sein.

Ein alter Mann humpelte ihnen auf dem Weg entgegen. Er trug eine Armbinde, die ihm Autorität verleihen sollte.

“Geht doch weiter. Wisst ihr nicht, dass es verboten ist, sich zu versammeln?”

“Ach, lassen se man. Wir haben den Krieg gemeinsam verloren. Sowas bindet,” meinte ‘der Kleene’. Der Mann schlurfte weiter.

Sie hatten sich so viel zu sagen, aber sie sagten nichts. Picco malte wieder Männlein in den Sand.

“Bleib übrig.” Sie standen hier zusammen und wussten noch nicht, wie viele von ihnen sich an die Empfehlung hatten halten können.

“Hat einer was vom Mohr gehört?” fragte Picco.

“Von Mohr? Dem roten Mohr? Nee, immer noch nich,” sagte Fritze.

Der dritte Junge schnitzte ein Herz in die Baumrinde.

“Das Schlimme ist,” sagte der Kleene, “dass man überhaupt nich mehr wees, was man nu glauben soll.”

“Es geht ein Gerücht um, er wär’ in Gefangenschaft,” sagte Picco langsam und runzelte die Stirn.

“Na, aber nicht lange,” sagte Fritze. “Wenn se sich ‘ne Woche lang die penetrant roten Haare angekuckt haben, jagen se den doch von alleine raus. Det bringt ja den ruhigsten Typ aus der Fassung.”

Picco sah zu Anna hinüber.

“Und ihr Plutokratentöchter? Was habt ihr jetzt von euren alliierten Vokabeln? In zwei Jahren könnt ihr sagen, ‘meine Familie ist leider verhungert, aber ich habe Abitur…’ Gratuliere. Viel Vergnügen.”

“Picco, muss das sein?” protestierte Fritze. “Vor paar Wochen hätten wer das letzte Hemd füreinander ausgezogen, und heute hauen wir uns die Hucke voll? Ausserdem is Schule nicht immer schlecht. Ich zum Beispiel will nochmal hin.” Picco zog eine Grimasse.

“Was ist denn eigentlich mit Treptow?” fragte Anna.

“Der hat seinen Vetter eingestellt,” sagte Picco, “ich soll später mal wieder vorbeikommen. Kann er lange warten.”

“Immerhin hatteste Karte II,” sagt Fritze, “vielleicht noch ‘nen Monat oder was. Arbeiterkarte. Nicht zu verachten. Kriegst doppelt so viel Brot und Fett wie wir. ‘Nen ganzes Brot und 20 Gramm Fett.”

“Ja schon.”

“Wie wär’s mit ‘ner Karriere als Zuhälter?” sagt der Kleene, “son netter, charmanter,” und entfernt sich vorsorglich ein paar Schritte.

“Ach, kennste Dich in dem Milieu aus?” sagt Picco.

“Was ist denn das nun eigentlich?” fragt Anna.

“Diese Bildungslücke würde ich nun nicht unbedingt schliessen,” meint Fritze, “ich bin nicht sicher es steht im Duden.” Aber Anna beschliesst, zu Hause nachzuschlagen.

“Leute, was erwarten wir eigentlich?” sagt Fritze wieder. “Der Krieg ist seit ein paar lumpigen Wochen vorbei. Kuckt euch doch um. Ihr seht doch den Klump. Wie soll’n das über Nacht in die Reihe kommen? Die Kindergartentante wässert ein Abziehbild, und nachher glänzt alles wieder heil in voller Farbenpracht, als wär nichts gewesen?”

“Wieso seid ‘n Ihr so pinkelfein?” sagt der Kleene.

“Wir war’n im Theater,” sagt Anna, “‘Wir heissen euch hoffen’. Was Neues, auf jetzt geeicht, aber ich weiss noch nicht, wie ich es finde. Es redete im Grunde nur uns an, uns Jungschen, oder, Fritze?”

“Ja, haargenau. Meine Alten, die hätten sich da gleich wieder draussen vor gefühlt, wie früher. Das woll’n wir mal lassen. Was der uns da anbietet, das kommt bei mir nicht an, so nicht.”

“Siehste, das selbe Gefühl hatte ich auch. Mir war so ungemütlich, so als sollten die unschuldigen Kinderchen von den miesen Erwachsenen getrennt werden. Das Ganze klang so fremd, so als wär der gar nicht von uns. Weisst du was ich meine?”

“Ja klar.” Fritze schüttelt den Kopf. “So nich.”

“Dabei meint er’s ja gut, will uns irgendwie Mut machen,” sagt Anna. “Im Krieg, seien wir doch mal ehrlich, da ham wir keinem über fünfundzwanzig getraut. Aber jetzt müssen wir doch erstmal zusammen halten. Können die doch nicht pauschal in den Müll packen.”

“Na sagt mal, ihr redet da rum. Wer hat uns denn das letzte mal Mut gemacht? Worum gings’n da? Hatten wir da nicht ‘ne Knarre in der Hand? Von wem denn wohl?” sagt Picco.

“Ja, aber, ich kann’s dir nicht erklären. Ich bin jedenfalls ärgerlich,” sagt Anna, “fühl mich richtig manipuliert. Vielleicht solltet ihr auch hin. Man will sich nachher klarquatschen. Das ist immer gut. Wieviel Uhr ist es? Muss ich nicht zum Bahnhof?”

Spröde verabschieden sie sich. Nicht wie früher. Picco dreht sich weg, der Kleene winkt.

Fritze bringt Anna zum Bahnhof, durch ausgestorbene Strassen, Trümmer links und rechts, aber sie reden und reden noch lange.

“Ich komm bald mal wieder raus,” sagt Fritze, als der Zug anfährt, keine S-Bahn, sondern uralte Bummelzugwaggons. Ohne Fenster, aber sie fahren.