Mutti und die Geschwister haben ängstlich auf Annas Rückkehr gewartet, sind enttäuscht, dass sie ohne Käthe wiederkommt, aber froh über die gute Nachricht. Und sie sind überglücklich, als Anna die Mitbringsel auspackt. Im Rucksack finden sich ein Brot, Marmelade, ein Einmachglas mit Reineclauden, ein Pfund Reis, Dosenmilch und der Hering in Tomatensausse von den Schwestern in Beelitz.
Tante Heyn, wohl wissend, dass das ganze Haus in ihrer Abwesenheit von oben bis unten ausgeplündert worden war, hatte Brot und gekochte Nudeln herübergebracht, nachdem Anna losgegangen war, aber auch die Nachbarn hatten inzwischen leere Schränke. Niemand konnte sagen wann wieder Lebensmittellieferungen irgendwelcher Art zu erwarten waren, von Lebensmittelkarten ganz zu schweigen. Gerüchte wucherten, aber solide Auskünfte waren knapp.
“Was machen wir heute nur?” dachte Anna jeden Morgen beim Aufwachen von Neuem. Wie sollten sie Foffie versorgen? Den ganzen Tag kreisten die Gedanken ununterbrochen darum, etwas Essbares zu ergattern, um Foffie zu füttern.
Korinna hatte eines Morgens das Kinderrad genommen, das den Russen zu klein gewesen war, als die übrigen mitgingen, und war zu einem Bauernhof in Richtung Schönfliess geradelt, um Mohrrüben oder Rote Beete zu erbetteln. Sie war mit fünf Rüben, einem Ei und der Nachricht nach Hause geschickt worden, sie möge gar nicht erst wiederkommen. Sie hätten selbst nicht genug. Korinna fühlte sich so gedemütigt, dass sie ganz vergessen hatte zu fragen, ob sie Salz brauchten und was sie ihr dafür geben würden. Also schickte sie Mutti zwei Tage später mit dem Salz zu einem anderen Hof, wo sie gern tauschten und Korinna im Hochgefühl des Erfolgs mit roten Backen nach Hause kam. Aber diese Hamsterfahrten waren nicht ungefährlich. Nachdem Nadja kurz darauf weinend mit leeren Händen heimkehrte — ihre einzige Beute, ein Weisskohl, von Lümmeln auf der Landstrasse abgenommen, — da entschied die Mutter, sie nie wieder zu schicken.
Stattdessen schlichen Anna und Nadja nun früh morgens in den Wald, um Brennesseln und die blasse Melde zu sammeln, die gekocht ähnlich wie Spinat schmeckte, leider aber wie Spinat zu einem kümmerlichen Haufen im Topf zusammenschrumpfte, egal wie viel die Mädel gefunden hatten. Mutter erinnerte dann alle, wie hoch der Nesseln Vitamingehalt sei. Es stimmte ja auch. Löwenzahn hatten sie reichlich im eigenen Garten, jetzt zwar bitter nach der ersten Blüte, aber Foffie kaute gerne daran. Bei dem warmen Wetter standen auch die Büsche in Blüte, die Birken im hellen Grün und Vögel sangen. Wo waren nur auf einmal die vielen Vögel hergekommen?
Nach dem Regen musste ein Ausflug in den Wald sehr früh morgens gemacht werden, vor dem Ende der Ausgangssperre, denn auch andere Augen waren unterwegs: Pilze suchen. Die Schwestern hatten im Biologieunterricht gelernt welche essbar seien, und bei einem Schulausflug, wo die zu finden waren. Butterpilze, mit den glänzenden, klebrigen Hüten, und Steinpilze gab es viele, aber Pfifferlinge in dieser Gegend keine. Giftige Pilze waren in Massen vorhanden. Schon Vater hatte den Töchtern auf den langen Spaziergängen zum Tattersal und in den Wald viele Pilze gezeigt, sowie Moose, Käfer, Schnecken und sogar Blindschleichen.
Nachdem die Pilze in der Pfanne gedünstet waren, auch sie ein dürftiges Häufchen wegen des hohen Wassergehalts, (“aber sie haben wertvolle Mineralien”, und das stimmte), spülten sie die Teller in einem Wassereimer und dachten sogleich wieder darüber nach, wo sie etwas zu essen organisieren könnten. WAS? WIE?
Es war auch schwierig, bei Gesprächen mit Nachbarn bei der Sache zu bleiben, weil die Hungergefühle ständig ablenkten, sich Essbares vorstellten, den Duft einer Mahlzeit in der Küche etwa, und weil das Bild von Foffie, der still den kalten Herd ansah, einen nicht verliess. Er lag nachts wach, hungrig, und lutschte am Daumen wie früher als Baby. Der verhärmte Ausdruck verliess Muttis Gesicht nun nicht mehr, das nervöse Zucken in der linken Wange merkte sie aber nicht.
Sie wartete stets am Zaun, wenn die Kinder auf ein Gerücht hin beim Bäcker angestanden hatten, dass es heute Brot geben sollte. Manchmal stimmte es ja, mitunter war es alle bis sie dran kamen, und gelegentlich wurde die Tür überhaupt nicht erst aufgemacht.
Solange die Rote Armee noch mit den Pferden im Park kampierte, wurden die kleinen Kinder von den Feldköchen ermuntert, sich dicke, scharf gewürzte Reissuppe mit Fleisch zu holen. Die Köche waren freundlich zu den Kleinen, die sich auch nicht fürchteten. Nachts lagerten die Soldaten am Feuer, spielten Akkordeon, (Annas?), und sangen wunderschöne, traurige Lieder, tranken Schnaps und drangen schliesslich in die Häuser der Nachbarschaft ein, (deren Besitzern es noch immer verboten war, die Türen zu verschliessen,) auf der Jagd nach Frauen, — den Müttern und Schwestern der Kinder, die sie tagsüber streichelten.