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30. April 1945
Aufbruch nach Beelitz

“Ich mache mir solche Sorgen um Käthe, da draussen in Beelitz,” sagt Mutti. “Ob du nicht doch hinfahren solltest, und sie herholen? Wir können ihr ja nicht viel Sicherheit bieten hier, aber wenigstens wäre sie da nicht von all den Soldaten umringt, Verwundeten und anderen, und auch sonst -”

Nadja und Anna knien auf dem Boden und schrubben nun schon zum zweitenmal wenigstens die schmutzigsten Stellen. Bei ihrer Rückkehr hat das Haus schier unvorstellbar ausgesehen. Jedes Stück von Wert war geplündert, auch die Fahrräder, die Teppiche zerschnitten und mit Erbsensuppe und Fäkalien verdreckt hinten im Garten liegengelassen. Immerhin waren die Betten noch vorhanden, und obendrein solche von Nachbarn, die nun kamen, um ihre Habe einzusammeln. Federbetten und Decken fehlten, aber die Mädel entdeckten die Bettwäsche, die nass im Waschkessel zurückgelassen worden war, und nahmen die mit Stockflecken bedeckten Laken heraus, spülten sie gründlich mit herangeschlepptem Wasser und trockneten sie an der Sonne. Es waren genügend Laken, Überzüge und Kopfkissen für vier Betten. Foffie würde sich für jetzt mit einem Vorhang begnügen müssen.

Lilly war zu ihrer Tante weitergezogen.

Als sie in der Klinik, die ihnen tagelang so warm Obdach geboten hatte, ihre Sachen packten, war Schwester Otti mit einem Päckchen DDT erschienen und erklärte, sie sähe Ungeziefer in ihrer nahen Zukunft, und dies würde ihnen sehr zustatten kommen.

Wie recht sie hatte: die Mädel bestreuten die Matratzen mit dem bräunlichen Pulver, dessen unangenehmer Geruch sich sofort durch’s Haus verbreitete. Morgen würden sie Kopfkissen und Matratzen umdrehen und die andere Seite vornehmen.

Das scheppernde Geräusch in der Waschtrommel, als sie die nassen Sachen herausnahmen, rührte von Muttis Perlen her. Sie hatten alle stumm dagestanden und sie betrachtet. Wie in aller Welt konnten die in die Wäsche geraten sein? Hatte Mutti sie im Bett an gehabt?

Hatte sie sie jemals mit ins Bett genommen? War es möglich, dass sie es aus Zerstreuung abgelegt hatte?

Mutti war ausser sich. Die Perlen waren monatelang nicht mehr aus dem Samtetui genommen worden. Das Etui war verschwunden, nicht verwunderlich, da alles verschwunden war, das nicht angenagelt gewesen war oder schlicht nicht durch die Tür passte, wie zum Beispiel der Flügel.

“Mutti, denk mal nach,” sagt Nadja. “Hat dir Tatjana vielleicht mal geholfen, den Verschluss zuzuhaken?” Mutti runzelt die Stirn. Dann kommt Leben in ihr Gesicht.

“Ja, ja natürlich. Zweimal sogar, vor einem Jahr waren wir zuletzt im Konzert, und da, und ein andermal auch, da hat sie den Verschluss zu gemacht.”

“Hat sie gesehen, wo du das Etui verwahrt hast, wie d'us rausgenommen hast?”

“Ich glaube schon. Ja, sie wusste wo die Perlen sind. Und ich weiss was du denkst. Du hast recht, Kind. Tatjana hat sie in der Wäsche versteckt.”

Mutti hat Tränen in den Augen. “Sie hat die Perlen für uns gerettet. Wie schlau von ihr, und wie lieb.”

“Es sieht so aus, als ob ihre Welt schon einmal zusammengekracht ist, nicht?” sagt Anna. “Das wussten wir ja. Da sammelt man Erfahrung. Und jetzt hat sie alles verloren.”

Nun hat Mutti wieder von Käthe angefangen, der Schwägerin, und ihrem Versprechen, sie herzuholen.

“Was, wenn sie nicht mehr da ist? Wir können nicht nachprüfen was da draussen los ist, und wenn die Russen dort sind, was wahrscheinlich ist, dann werden sie sie gar nicht mit lassen, oder? Sie ist immerhin Krankenschwester, und jetzt wimmelt es von Verwundeten.” Aber Anna steht auf und trocknet sich ab. Sie sieht Foffie in der Küche nach dem kalten Herd schielen. Sie haben nur noch ein paar rohe Kartoffeln, die Tante Heyn ihnen heute gebracht hat.

“Weisst du auch, wie weit Beelitz ist? Es liegt hinter Potsdam, und wir wissen ja gar nicht, ob irgendwas fährt. Es sind mindestens 50 km. In der Stadt schiessen sie noch. Mutti, ich-” Nun ist auch Mutter unsicher, ob sie ihre Älteste so einfach losschicken darf.

“Es ist nur, dass ich es versprochen habe, unserer Käthe.”

“Ihr seid doch unterbrochen worden, oder? Weisst du noch?”

“Sie hatte solch fürchterliche Angst vor den Russen, meinte, sie würden sie verschleppen.

Ich denke halt, es wäre sicherer, wenn sie hier bei uns sein könnte.”

Muttis Augen blicken trostlos. Am Vorabend schien es beim Anblick des Hauses, als ob sie verzweifeln würde über die Aussicht, jemals wieder ein normales Leben zu führen. Ein geordnetes Dasein. Es ging einfach alles über ihre Kräfte, und die Töchter hatten beobachtet, dass sie keinen Schritt in die Bibliothek getan hatte. Sie liessen die Tür zu und würden alle Bücher später erst in die arg zerrupften Regale zurück stellen.

Vielleicht war der Gedanke, eine erwachsene Frau im Hause zu haben, ein Trost für Mutter.

Möglicherweise war es dies, das Anna bewog, ihre Stiefel und ein paar alte Skihosen überzuziehen, für den Fall, dass sie spät unterwegs sein würde. Sie füllte eine Flasche mit Wasser, und, das Haar unter dem grauen Kopftuch verborgen, verabschiedete sie sich von ihnen.

In Vaters Schreibtisch hatte sich eine Stadtkarte gefunden. Ja, richtig, sie musste sich ganz generell in Richtung Potsdam bewegen, in süd-westlicher Richtung. Zuerst würde sie sich an die bekannten Aussenbezirke halten, die alte Omnibus-Route, und sich dann weiter durchfragen. Offenbar wurde in diesen Bezirken nun nicht mehr gekämpft.

Also begann sie, stadtwärts die Oranienburger Chausee entlang zu laufen, die nun nicht länger von endlosen Kolonnen sowjetischer Militärfahrzeuge verstopft war. Die Luft war still, der tagelang anhaltende Artilleriebeschuss längst verklungen, obwohl man in der Ferne schon noch schwaches Rummeln vernehmen konnte. Sie war bereits ein ganzes Stück vorangekommen, als sie hinter sich das Tuckern eines Fahrzeugs hörte. Es hielt neben ihr.

“Bist du das, Anna? Wo gehst du hin? Willste ein Stück mit?” Anna sah den Kolonialwarenhändler und seine Frau, die einen Kilometer entfernt von ihnen ein Geschäft betrieben, in dem die Kinder regelmässig Schlange standen. Obwohl das Gefährt, das sich mittels Gaskocher fortbewegte, anmutete, als ob Anna es in Kürze würde schieben müssen, stieg sie dankbar ein.

“Wir fahren nicht nach Potsdam,” sagte der Mann, “aber du kannst eine ganze Ecke mitfahren, und dann setzen wir dich wo ab, wo vielleicht schon was fährt. Anna freut sich, diese Leute getroffen zu haben. Die beiden waren zu einem Bauern unterwegs und hofften, wenigstens Kartoffeln oder rote Beete oder was für ihre Kunden aufzutreiben. Irgendwas zu essen halt.

Sie fragen Anna nicht aus, wie es ihnen ergangen ist, wissen nur zu genau, dass die Menschen nicht darüber sprechen wollen und auch nicht die Wahrheit sagen, um den Terror nicht noch einmal erleben zu müssen.

“Ja, aber bald wird es ein neues Kartensystem geben, und dann werden wir regelmässig wieder Lieferungen bekommen. Es kann ja nicht so weiter gehen,” sagt die Frau.

“Hoffen wirs,” sagt Anna. “Wir haben überhaupt nichts mehr im Hause. Doch, ein Pfund Salz.” Sie lacht.

“Im Ernst?” sagt da der Mann. “Da habt ihr Glück. Bringt es zu einem der Bauern hier herum und fragt, was er euch dafür gibt. Handelt ein bisschen. Die Höfe haben alle kein Salz mehr, aber sie brauchen dringend welches für die Tiere. Salz müssen sie haben.”

“Vielen Dank für den Tip,” sagt Anna, “da wäre ich nie drauf gekommen.” Mutti würde sich riesig freuen, davon zu hören.

Sie fuhren an Resten der Panzersperren vorüber, an denen deutsche Kriegsgefangene, von russischen Posten bewacht, erste Aufräumungsarbeiten verrichteten. Etwas weiter stadteinwärts schien eine Bäckerei geöffnet zu sein, jedenfalls stand eine lange Schlange vor der Tür. Einige Zivilisten waren unterwegs, die sich bemühten, Lasten auf Bollerwagen zu befördern, denn Fahrräder waren überall gestohlen worden. Zwei Männer mit Spaten schaufelten irgendwelchen Unrat in einen tiefen Krater auf einem Bürgersteig.

“Es geht ja das Gerücht,” sagt die Frau, mit einem Seitenblick auf Anna, “dass Hitler tot sein soll.” Der Mann sieht starr geradeaus.

“Soll Seite an Seite mit seinen Soldaten bis zum Schluss gekämpft haben. So heisst es jedenfalls.”

“Ach wirklich?” sagt Anna. “Das ist kaum zu glauben, oder? Ich mein’, er war so überlebensgross, ist so überlebensgross. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es stimmen soll. Sie?”

“Dass er tot ist oder dass er mit seinen Soldaten gekämpft hat?”

“Naja,” meldet sich der Mann. “Was kann er schon machen? Wo soll er denn hin? Er war jedenfalls hier in Berlin im Führerbunker an der Reichskanzlei, nicht in Bayern. Und jetzt kommt’s erst: er soll seine Freundin geheiratet haben.” “Diese Eva Braun,” sagte die Frau.

“Du grosser Gott!” sagte Anna. “Er hatte eine Freundin! Man sollte wirklich denken, dass er Wichtigeres im Kopf hätte. Ich meine, die Kämpfe sind immer noch nicht zu Ende. Die Russen sind schon acht Tage in Berlin, und hier draussen hat sich ja kein richtiger Kampf abgespielt ,” und nach einer Pause, “Ich bin entsetzlich wütend auf ihn, über das, was er der Welt angetan hat. Ich hasse ihn. Es ist mir egal ob er tot ist. Ich hoffe es stimmt.” Erschrocken hält sie inne.

Der Mann hat angehalten. Ruhig und besonnen sagt er, “Hier an der Ecke müssen wir jetzt abbiegen. Aber hier sind wir eben hinter Reinickendorf. Wenn du einfach weitergehst wie der Bus immer fährt, weisst du? Da kannst du nicht falsch sein. Und dann fragste einfach. Die Leute da herum wissen ja Bescheid. Die sind ja nicht auf Strassenschilder angewiesen. Wir haben uns gestern mal total verfahren, aber man gewöhnt sich jetzt an die Ruinen. Die russischen Schilder lernen wir auch schon entziffern. Also viel Glück, Anna.”

“Ihnen auch! Und vielen Dank!” Anna springt herunter und läuft durch schwer mitgenommene Strassen, die vor Trümmern und Ruinen kaum wiederzuerkennen sind. Es sind auch überall noch ausgebrannte Fahrzeuge im Weg, Panzer und Lafetten, Kübelwagen, und überall trifft sie auf Krater. Wo Gebäude stehen, haben sie häufig grosse Risse und Löcher, aber sie ist den Anblick von den Wochen und Monaten der Bombeneinsätze gewohnt.

Mittags setzt sie sich auf einen Zementblock am Strassenrand und holt das Brot aus der Tasche, dass ihr die Kolonialwarenhändlerin geschenkt hat, und ihre Flasche Wasser. Zwischen den dicken Hälften sind feingeschnittene Salamischeiben und sogar kleine runde Delikatessgurken eingeklemmt! Ein Hochgenuss. Sie sitzt und kaut.

Das Motorrad mit dem Beifahrersitz hält direkt neben ihr. Eine junge Frau in Matrosenmütze und Sonnenbrille lacht sie an und hält ihr ein Stück Papier hin. Könnte ihr Anna wohl sagen, ob sie in der vorgeschriebenen Richtung fahre? Die Frau sprach mit einem fremden Akzent und suchte nach Worten.

“Ich weiss auch nicht ganz genau,” sagte Anna,” aber wenn Sie in die Badstrasse wollen, sind Sie, glaube ich, richtig. Ich hoffe es wenigstens, denn da muss ich auch vorbei, und Sie sehen ja, ich gehe in derselben Richtung.”

Da strahlte die Fahrerin über das ganze Gesicht.

“Wir fahren zusammen,” rief sie aus. “Nehmen sie die Beine.” Sie stieg ab, kämpfte mit einer ältlichen Nähmaschine der Marke Pfaff, drehte sie um und forderte Anna auf, im Beifahrersitz Platz zu nehmen. Die Maschine auf dem Schoss. Sie fuhren los.

Sie war Ungarin, Tänzerin in einem Kabarett gewesen, die für Frontsoldaten getingelt hatten, als sie ihrem jetzigen Verlobten begegnet war, einem Major. Sie wusste allerdings nicht wo er verblieben war. Er galt als vermisst. Ihr Sprachsalat enthielt Teile, die Anna verstand, und andere, die ihr verborgen blieben, aber es war riesig nett, dieser patenten, energischen, optimistischen und überaus anziehenden Frau zuzuhören. Anna verstand zum guten Schluss nicht den Teil der Geschichte, der vom Ziel der Nähmaschine in der Badstrasse handelte, aber das war auch egal. Sie war ihrerseits nicht sicher, dass sie die Umstände ihres Ausflugs nach Beelitz richtig rübergebracht hatte, aber soweit sie erkennen konnte, schien der Grund für ihre Reise, Käthe, eine Krankenschwester in dem grossen Feldlazarett Beelitz-Heilstätten, retten zu wollen, vollkommen schlüssig.

Schliesslich war der Krieg nun beinah vorbei.

Einmal hielten sie an einer Wasserpumpe und fragten eine Frau nach dem Weg, und bisher hatten sie es richtig gemacht.

“Wie kommen sie denn zu das Lazarett?” fragte die Frau, als sie an einem beschädigten, aber offensichtlich noch bewohnbaren Gebäude in der Badstrasse anlangten und die Nähmaschine zur Haustür zerrten.

“Ich gehe zu Fuss,” sagte Anna, “vielen Dank. Es hat Spass gemacht mit ihnen zu fahren. Viel Glück, und kommen sie heil nach Hause.”

Da umarmte und küsste sie die Frau, und lachte mit den Augen, Nase und Mund. Und Anna musste auch lachen, und winkte. Dann ging sie los. Nach wenigen Schritten hörte sie hinter sich eine Stimme.

“Sie, Frollein! Se gehen falsch. S’is möglich, dass se ‘ne Fahrmöglichkeit nach Potsdam erwischen. Drehn’ se mal wieder um.” Anna hielt ein.

“Wenn se ‘n paar Minuten warten, fahr ich se an den Bahnhof, wo ‘son Pendelverkehr starten sollte. Ein Gerücht. Die U-Bahn und die S-Bahn sind all noch unter Wasser. Ich heisse Karl. Warten se man hier.”

Der Beifahrersitz war ohne die Pfaff angenehmer, aber Karl war nicht annähernd so amüsant wie Eva. Sie ratterten durch die kaum passierbaren Strassen weiter. Immer weiter. Sie erkannte die Gegend nicht wieder.

An dem Bahnhof angekommen, sahen sie einige Menschen warten.

Eben kam ein Uniformierter heraus und bedeutete ihnen, dass natürlich noch kein Pendelverkehr möglich wäre.

“Laufen se mal immer de Schienen lang,” sagte er, “vielleicht geht es in paar Wochen denn los.” Karl hatte Anna viel weiter gefahren als ursprünglich versprochen, und sie bestand nun darauf, dass er umkehrte.

“Ich geh auf den Schienen weiter,” sagte sie, “die Bahnhöfe sind ja mein Kompass. Kann ich mich gar nicht verlaufen. Sie haben mir so geholfen, ehrlich.” Und so drehte Karl um und fuhr los. Und Anna lief wieder weiter, machte grosse Schritte, von Bolzen zu Bolzen. Es war schon Nachmittag, und sie hoffte fast bis ans Ziel zu kommen bevor die Sperrstunde begann.

Sie lief nun in Richtung Wannsee, quer durch die südlichen Vororte Berlins. Sowjetische Truppen, wo immer sie sich aufhielten, waren in festlicher, angeheiterter Stimmung, auf der Suche nach Alkohol oder bereits im Besitz. Wiederum schien es das Beste, sich mitten im Strassenverkehr zu bewegen. Die Menschen auf den Schienen liefen stumm vor sich hin, immer weiter, angestrengt von den grossen Schritten auf dem Schienenstrang, aber nur wenige schienen abzubiegen. Schliesslich springt Anna eine Böschung hinunter, nachdem sie zweimal gestolpert und hingefallen ist. Unten sieht sie eine freundliche Strasse mit Einfamilienhäusern in wohlgepflegten Gärten. Sie geht eine kleine Steintreppe hoch und setzt sich einen Moment, durch Büsche von der Strasse verborgen. Sie will eben den Rest des Brotes essen und etwas Wasser trinken. Sie hat schrecklichen Hunger. Sie schliesst die Augen einen Moment, nur einen Moment, und erwacht erschrocken, als hinter ihr eine Frauenstimme sagt, “Aber liebes Kind, Sie können doch nicht hier draussen sitzen. Es ist fast Sperrstunde. Kommen sie, wir bringen sie unter für die Nacht. Wir haben ein Versteck.”

Anna drehte sich herum und erblickte eine grosse, mütterlich anmutende Frau um die fünfzig. Es war fast dunkel, und Anna fror. Und so stand sie auf und folgte der Unbekannten ins Haus.

Was Kommt Denn Da?

Gestärkt mit einer Tasse Bohnenkaffee und mit Griessbrei, macht sich Anna um halb acht auf den Weg zurück zu den Eisenbahnschienen in Richtung Potsdam. So früh sind noch nicht viele Menschen unterwegs, aber mit neuen Notizen zur Orientierung ausgestattet, kommt Anna nun gut voran.

Sie läuft jetzt neben den Schienen, den Wald auf beiden Seiten, und trifft bald auf eine Gruppe deutscher Kriegsgefangener mit Schaufeln, die am Bahndamm entlanggehen. Bewacht werden sie von zwei Rotarmisten. Einer der deutschen Soldaten winkt ein bisschen, und sie winkt zurück. Weiter, immer weiter.

Nach einer Weile entdeckte sie eine Gruppe grösserer Gebäude zwischen Baumgruppen und sah zahlreiche sowjetische Fahrzeuge auf dem Parkplatz und Lazarettpersonal an den Eingängen. Sie wagte sich in einen der Eingänge und fragte eine russische Krankenschwester in merkwürdiger, festgezurrter Kopfhaube, ob noch deutsches Krankenpersonal hier sei. Sie suche nach einer Verwandten. Die Schwester schien Anna zu verstehen und deutete auf ein Gebäude am Ausgang der Anlage. Anna lief an weiteren Häusern und vielen Soldaten, mit und ohne Arztkittel, vorbei und fand schliesslich zwei deutsche Schwestern im zweiten Stock des letzten Baus, in einem winzigen Raum. Sie sahen Anna verwundert an.

“Guten Morgen,” sagte Anna, “ich suche nach einer Verwandten, Käthe Straub. Ist sie noch hier? Wissen sie etwas von ihr?” Die beiden Frauen schoben einen bequemen Stuhl zu ihr hinüber und sagten, Anna solle sich doch setzen.

“Wir haben grade Tee gekocht,” sagte die eine, “nehmen sie Zucker?”

“Ja, danke, wenn sie welchen haben,” sagte Anna und nahm dankbar die dampfende Tasse.

“Also, wie sind sie in aller Welt hergekommen? Wo kommen sie denn her? Nein, Käthe ist nicht mehr da, ist vorgestern mit dem allerletzten Verwundetentransport nach dem Westen noch rausgekommen. Wir beiden sind Berlinerinnen. Es musste jemand dableiben, um die Anlage hier zu übergeben.”

Anna ist in ihrem Stuhl zusammengesunken. Sie trank mehr Tee und erzählte dann ihre Geschichte.

“Also einerseits gibt’s ja keinen Grund, enttäuscht zu sein,” sagte sie, “wir wollten nur sicher gehen, dass sie irgendwie versorgt war. Es sieht ja so aus, als ob das die beste Lösung für sie war. Prima,” sagte sie.

“Ja, natürlich,” sagten die Schwestern, “die Russen waren nämlich schonmal durchgebrochen, und es war das reinste Chaos, aber sie sind nicht lange geblieben. Die Armee Wenck—”

“Wie bitte? Die Armee Wenck hat sie nochmal befreit, hat die Front zurückgedrängt?” Anna kann es kaum glauben. Vor nur wenigen Tagen sollte eben diese Armee Wenck ja auch eine Schneise durch die russischen Panzerdivisionen freikämpfen, um die eingeschlossenen deutschen Truppen zu entlasten und die schwachen Einheiten im Norden Berlins zu verstärken. So jedenfalls hatte es laut Feldwebel und Obergefreiten geklungen.

“Ja, sie sind gekommen und haben die ganze Gegend hier abgesichert, so dass wir imstande waren, fast dreitausend Verwundete auf Laster zu verladen, hier auf der Autobahn.”

“Was? Dreitausend Verwundete haben sie noch rausgebracht? Hat es nicht überall pausenlos gekracht? Wie haben sie das denn zustande gekriegt?” fragte Anna.

“Wir haben stur die ganzen Betten hinten rausgefahren und runter auf die Autobahn, und mit allem Drum und Dran auf die Laster, die sind dann im Konvoi gefahren. Wir haben alle verladen können, und Käthe hat den Transport mitbegleitet. Hoffentlich sind sie durchgekommen.”

Anna staunte.

“Ja, wir waren unter schwerem Beschuss. Stimmt schon, wir hatten Verluste aber die allermeisten sind weggekommen. Es hat natürlich nicht lange vorgehalten. Unsere Soldaten hatten ja keine Munition mehr. Nichts. Da sind sie zurück, durch die Wälder.” “Und Sie beide waren ganz allein? Sind sie nicht—?”Anna stockte.

“Nein. Wir sind respektvoll behandelt worden. Einige der Ärzte hier sprechen ausgezeichnet Deutsch. Sie beklagen sich nur über das Fehlen von Sterilität, aber wo sollen wir denn die hernehmen, ohne Strom? Wir haben ja eben den Tee auf dem Bunsenbrenner machen müssen.”

Die Schwestern füttern Anna mit einem reichlichen Broteberg, Käse und noch mehr Tee. Dann schlagen sie vor, Anna solle doch lieber hier schlafen und früh morgens gestärkt wieder los laufen, aber Anna will lieber gleich auf den Rückweg.

“Aber könnten sie mir wohl noch schnell zeigen, wo Käthes Station war, wo sie gearbeitet hat?” Und sie gehen mit ihr hinaus und zeigen auf die Fenster im Erdgeschoss eines der Blocks. Dann begleiten sie sie an den Bahndamm.

Anna bedankt sich und winkt ihnen zu. Sie ist sich sicher, dass sie ihren Weg rascher zurückfindet.

Wieder am Bahndamm angelangt, meinte Anna, hinter sich einen Zug zu hören, und drehte sich um. Da bot sich ihr ein wunderlicher Anblick. Eine einzelne, zierliche Lokomotive, glänzend schwarz lackiert und mit roten Rädern, schnaufte heran, der Lokführer ein junger russischer Offizier. Im Nu verschwand die Lok in der Ferne. Für einen Augenblick meinte Anna, es könne sich nur um ein Beutestück aus den nahen Babelsberger Filmstudios gehandelt haben, (“Anna Karenina?”), da kam schon dieselbe Lok ein weiteres Mal auf dem Rückweg. Diesmal winkte der Russe.

Sie ging weiter. Nach etwa einer Stunde traf sie wieder auf die Gruppe Kriegsgefangener, die Kies am Bahndamm schaufelten. Als nun die Spielzeuglokomotive mit dem fröhlichen Fahrer ein weiteres Mal auftauchte, rief einer der deutschen Soldaten, “ham’se den gesehn? Das ist der Eisenbahnkommandant. Amüsiert sich wie’n Kind.”

In den Aussenbezirken angekommen, blieb sie immer mal am Strassenrand stehen und blickte hinter sich die Strasse entlang in der Hoffnung auf Mitfahrmöglichkeiten. Als sie aber einen enorm hohen russischen Lastzug auf sich zukommen sah, trat sie rasch zurück und ging weiter. Aber der Fahrer hatte sie erspäht und hielt an. Der Beifahrer öffnete die Tür und fragte, ob Anna ‘da lang’ wollte. Aber Anna beteuerte, sie brauche keine Hilfe. Im nächsten Moment waren die beiden Soldaten ausgestiegen und winkten sie ans Ende des Lastzugs, wo sich eine steile, schmale Leiter befand. Sie sahen freundlich und vertrauenserregend aus, und Anna wusste schliesslich nicht, wie sie das Angebot höflich abschlagen sollte. So stieg sie endlich unter Herzklopfen hinauf. Nach wenigen Minuten hielten sie jedoch wieder, und der Fahrer kam an die Leiter.

“Du lieber Himmel, war ich denn von allen guten Geistern verlassen,” dachte Anna, aber er erklärte ihr, dass sie ein paar niedrige Unterführungen knapp passieren würden, und sie müsse sich oben platt machen. Als sie die erreichten, legte sich Anna flach auf die öligen, mit orange- farbenem Gel versiegelten Kanister. Bald kamen sie an den Südrand der Stadt, so schien es ihr, aber der Fahrer fuhr eine Umgehungsstrasse. Anna suchte sich an Strassenschildern zu orientieren und war sicher, noch in der gewünschten Richtung zu sein. Kurz darauf mag den beiden eingefallen sein, dass sie womöglich vorschriftswidrig einen feindlichen Passagier auf ihren Munitionskisten beförderten, und so fuhren sie nur noch einige Kilometer und liessen sie dann an einer menschenleeren Ecke aussteigen. Sehr gerührt stieg Anna herunter, schüttelte die ihr hingestreckten Hände der beiden Soldaten, die kaum älter aussahen als sie selbst.

Erleichtert machte sie sich wieder auf den Weg, in der Hoffnung, sich alsbald orientieren zu können. Überall sah sie hastig angebrachte Strassenschilder in russischer Schrift.