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Nur weg von hier

An der Tankstelle wenden sie sich nach rechts, und laufen je zu zweit auf dem Fahrradweg weiter nach Norden.

“Wir gehen nach Birkenwerder,” bestimmt Lilly. “Wir haben Freunde dort. Sie sind ausgebombt, aber sie haben ein schönes Behelfsheim an der Havel. Sie werden uns verstecken, da bin ich ganz sicher.”

Birkenwerder scheint in diesem Moment unendlich weit fort, aber sie machen sich keine Illusionen, dass es irgendeine andere Lösung gäbe.

Einen Schritt vor den anderen, halten sie immer wieder Geräte fest, die vom Wagen zu fallen drohen, es wackelt ständig alles. Im Strassengraben neben ihnen finden sich erstaunliche Artikel, Kartons mit Kleidung, kleine Teppiche, Kaffeegeschirr, da ein toter Hund zwischen Müll. Foffie dreht sich um und blickt ihm lange nach. Er stellt keine Frage, diesmal nicht.

Die Autostrasse 96 ist noch immer nicht passierbar. Die langen Kolonnen von Lastwagen, Pferdefuhrwerken, Jeeps und Lafetten mit aufgesessenen Truppen bewegen sich weiter stadteinwärts. Noch hat sich die Stadt nicht ergeben.

Hier draussen scheint es am sichersten für die Frauen. Mitten im Strassenverkehr kümmert sich niemand um sie, die langen Schlangen stets in Bewegung, gottlob.

Jetzt liegt vor ihnen im Strassengraben ein Koffer mit dicken Reichsmarkbündeln. Es muss jemand in eine Bank eingebrochen sein und sich’s dann später wieder überlegt haben. Anna will hingehen und ein paar Scheine mitnehmen, da hält Lilly sie ab.

“Lass liegen. Nächste Woche ist alles wertlos, da drucken sie neue Geldscheine. Du wirst es sehen.” Anna lässt davon ab, aber Korinna, die Skeptische, nimmt einen Fünfzigmarkschein an sich, der auf den Radfahrweg geflattert ist, und stopft ihn unter die Wagenhaube.

Mutters Gang hat sich etwas verlangsamt, seit sie auf der Chaussee unterwegs sind, aber ihre Augen blicken verstört und entschlossen.

“Lauft nicht so weit vor,” ruft sie jetzt, “lasst uns eng zusammenbleiben.” Und das tun sie auch.

Neben ihnen findet sich weiterhin die erstaunlichste Raubbeute, jeweils für etwas noch Wertvolleres zurückgelassen. Vorhänge, Küchengerät, Werkzeug, Kameras, Papiere, viele Packen Papiere, Gemälde in teuren Rahmen, ein Motorrad, Teppiche und mehr Teppiche, und eine Unmenge Kleidung und Schuhe, nass und verschmutzt.

Viel Müll ist aus dem Fahrdamm auf den Fahrradweg und in den Graben geschoben worden, so dass sie oft gezwungen sind, an Baumstumpen, zerdrückten Autos und kaputten Lieferwagen, den Bestandteilen der unseligen Panzersperren, vorbeizuklettern. Vor drei oder vier Tagen ist dieses Gerümpel herangeschafft worden, nur um in wenigen Minuten von den Panzern der roten Armee beiseite geschoben zu werden.

“Die Russen werden eine Stunde brauchen, um die Sperren zu überwinden,” hatten die Berliner wieder mal gescherzt, “achtundfünfzig Minuten für’n Lachanfall, und zwei Minuten, um die Dinger einfach zu umfahren.” Wie so oft, waren sie nicht weit von der Wahrheit entfernt.

Als sie sich dem nächsten Ort nähern, kommt eine Reihe von schmalen, offenen Leiterwagen auf sie zu, von wilden kleinen Pferden gezogen, mit je einem Soldaten als Kutscher, wohl für Proviant. Aber oben drauf befinden sich Berge von Beutegut, mehr von der Art wie es bereits im Strassengraben liegt. Sie schreien den Frauen etwas zu, aber niemand hält, und keiner tut ihnen etwas.

Sie bewegen sich nun auf einem sandigen Bürgersteig vorwärts, bemüht, diesen ersten Ort schnellstens hinter sich zu lassen. Polnische Reiter patroullieren auf der kopfsteingepflasterten Strasse, so betrunken, dass man meint, sie müssten vom Pferd fallen. Eines scheut, galoppiert auf den Weg und erschreckt Foffie fürchterlich. Anna nimmt ihn auf den Rücken.

Lilly verspricht ihn später zu tragen. Nadja und Korinna gehen auf beiden Seiten des Korbwagens und schieben ständig rutschende Habseligkeiten wieder nach oben. Mutter blickt stumm vor sich hin.

“Weiter,” flüstert sie einmal, “nur weiter. Weg von hier.” Und sie tun das.

Da kommt ein betrunkener Reiter direkt auf den Bürgersteig geritten und fuchtelt mit einer Pistole in der Luft herum.

“Deutsche?” ruft er auf polnisch.

“Nein, Holländer,” antwortet Lilly, und für ihren Fall ist es nicht ganz gelogen, denn väterlicherseits stammt sie in der Tat von einem Flamen ab.

Der Betrunkene feuert mehrmals in die Luft und reitet weiter.

Mutter ist bleich geworden.

Eben jenseits des Ortes sehen sie eine Frau, die ihnen durch einen Türspalt zuwinkt. Schnell lenken sie den Kinderwagen in den Vorgarten und schlüpfen ins Haus.

“Was machen Sie denn da draussen auf der Strasse?” fragt die Frau und reibt sich die Stirn mit der Schürze. “Die schiessen da draussen blindlings rum. Seit zwei Tagen sind die stockbetrunken. Kommen Sie in die Küche und ruhen Sie sich etwas aus.”

Sie giesst selbstgemachten Apfelsaft in farbige Tassen. Ihr Mann kommt aus dem Hinterhof herein und legt ein verkleckstes Malerlaken über den Kinderwagen vor der Tür. Foffie kaut glücklich einen Brotkanten hinunter, kringelt sich in der guten Stube auf einem Sessel zusammen und schläft ein.

“Wieviel Uhr ist es bitte? Wir wollen noch vor der Dunkelheit nach Birkenwerder. Da gibt es eine Baracke in den Havelwiesen, wo wir hin können. Wir sollten uns nicht zu lange aufhalten.”

“Es ist ja schon nach sieben,” sagt da der Mann. “Das schaffen Sie gar nicht. Wer weiss, wo Sie dann steckenbleiben. Und wenn Sie keine Uhr haben, wissen Sie nicht, wann die Sperrstunde losgeht. Das Beste ist, Sie bleiben hier. Sie können unten im Keller, hinten in der Abstellkammer schlafen. Da findet Sie keiner.”

Eine Sekunde lang treffen sich Mutters und Lillys Augen.

“Klingt dir das geheuer?” fragt der Blick, und dann sagen sie, ja, das ist wahrscheinlich der beste Plan. Und sie bedanken sich sehr herzlich bei diesem freundlichen, grosszügigen Paar, das schon begonnen hat, einen Eintopf aufzusetzen, auf dem Feuerherd in der Küche. Von dem verführerischen Duft wacht Foffie auf und bekommt ein Glass Milch und einen Wecken schon mal voraus. Der Kinderwagen ist hinten in den Hof geschoben worden, mit dem Laken nun ganz verdeckt.

Als sie gegessen haben, sagen ihre Gastgeber, sie sollten recht bald in das Versteck. Die Soldaten hätten den ganzen Tag wieder getrunken und man wisse nie, wann sie kämen, nach Frauen zu suchen.

So nehmen sie ein paar Kissen, zwei Decken ihrer Gastgeber und gehen bald nach unten. Sie schlafen sofort ein. Später in der Nacht kommen Schritte in den Vorkeller, Kinderstimmen, eine weitere Familie und zwei junge Frauen sind noch untergekommen. Bald wird wieder alles still.

Zuerst klingt es, als kämen die Entsetzensschreie und das betrunkene Gegröhle direkt von oben. Anna tastet nach Foffie. Sein Atem geht lang und ruhig, ein Arm liegt über der Brust. An seiner anderen Seite liegt Mutter und starrt stumm an die Decke über ihren Köpfen. Sie zittert am ganzen Körper. Lilly, drüben bei Nadja und Korinna, kniet am Boden, beide Hände über den Ohren, und murmelt.

“Betet, Mädels,” flüstert sie. Und die Schwestern beten.

“Es ist zwei Häuser weiter,” sagt Anna zu Mutti, “oder sogar drei,” und streichelt ihr die Schulter. “Nicht hier.” Es tröstet niemanden.

Frauen werden geschlagen, Mädchen in ihrem Alter und jünger werden vergewaltig, und die Männer sind nicht imstande, es zu verhindern. Wo sie es versuchen, werden sie erschossen oder gefesselt und gezwungen, der Gewalttat zuzusehen. Es scheint, als ob die Verbrechen begangen werden, um zu demonstrieren, dass Deutsche jeden Aspekt ihrer Souveränität eingebüsst haben, über das Land, ihr Heim, jede Kontrolle über jegliches Geschehen, da es keine Instanz mehr gibt an die man sich wenden könnte, um Ordnung und Gesetzlichkeit wieder herzustellen. (Welche Ordnung? Was heisst jetzt Gesetzlichkeit?)

Anna hört das Anschwellen der Schreie, Schüsse und knallenden Türen, das Hämmern auf Metall, als gelte es, ein wildes Tier zu verscheuchen, und hat ein Gefühl, als ob sich der Boden unter ihrer aller Füssen geöffnet habe, um eine ganze Bevölkerung zu verschlucken. Lilly weint leise vor sich hin. Diese höllische Symphonie zieht sich über mehrere Stunden hin, ebbt ab, schwillt an, und hört erst auf, als draussen ein Hahn kräht, ein Zeichen, dass die Natur zum mindesten sich die Ordnung nicht aus der Hand nehmen lässt.

Der Mann kommt nach unten und hustet vorsichtig. Sein Gesicht ist aschfahl unter den Bartstoppeln. Er hat eine Flasche Milch dabei und nimmt nun die Decke vom Kinderwagen.

“Schnell, gehen sie jetzt. Hier durchs Hoftor und bleiben Sie auf den Seitenstrassen, so weit sie reichen, bevor sie auf die Chaussee zurückbiegen. Die schlafen erst noch die Nacht ihrer Barbarei aus, aber sie sind weiter völlig unberechenbar. Gehen Sie lieber.” Seine Frau ist nirgends zu sehen. Auch die späten Gäste sind schon fort. Er streichelt Foffie über den Kopf. “Es sind schlimme Zeiten. Gott schütze Sie.”

Die Seitenstrassen sind heute verlassen. Soldaten schnarchen in Leiterwagen, unter Planen, andere sieht man in der Ferne Pferde am Halfter führen.

Als die Sonne hoch am Himmel steht, entscheidet Mutter, es sei ein guter Moment, mitten im Verkehr und Getümmel einen trockenen Platz jenseits des Strassengrabens zu suchen und sich etwas auszuruhen. Sie nehmen Brot und Wasser aus dem Wagen und stärken sich. Es war ein guter Gedanke, denn niemand behelligt sie hier, ausser einem mageren Schäferhund, der auf der Suche nach Futter herumstreicht.

Das Rattern von Maschinengewehren ist nicht zu überhören, nun, da sie in Birkenwerder sind. Es kommt aus Richtung der Havelwiesen, genau der Ecke, die Lilly inzwischen als sicher erachtet hatte, der Zuflucht ihrer Freunde. Aber niemand kann genau sagen, wo die Schüsse fallen. Muss es nicht hier irgendwo sein, dass die Panzer durchgekommen sind, die dann südwestlich von hier in den Wäldern die Jungen überrascht haben? Wie ist das möglich? Ist die Front nicht schon viel weiter in die Stadt hineingetragen worden? Haben sie nicht erst gestern all das Kriegsgerät unangefochten auf der Strasse 96 Richtung Innenstadt fahren sehen? Was geht hier vor? Und wo sollen sie nun hin? Sie beschliessen, weiter auf der Chaussee zu bleiben und sich vorerst nicht um die Schüsse zu kümmern.

“Sollten wir versuchen, in der Kirche Unterschlupf zu finden?” sagt Mutter und deutet auf einen freundlichen Kirchturm nicht weit vor ihnen.

“Keine gute Idee,” sagt Lilly bestimmt. “Sie werden sich alle denken können, dass sich da die Frauen hingeflüchtet haben, und einfach reingehen. Wer soll sie denn aufhalten, der Pastor?”

So laufen sie weiter. Sie haben eine Decke aus dem Kinderwagen genommen, einen Kochtopf weggeworfen und damit zum weiter ansteigenden Müll an beiden Strassenseiten beigetragen. Aber Foffie sitzt jetzt im Wagen, die müden Beinchen hängen heraus. Er döst.

Lilly hat eine vage Idee, dass es hier herum sein müsste, wo man über die Strasse in Richtung Havel einbiegen sollte. Dort irgendwo, hinter blühenden Büschen müsste das Behelfsheim stehen, hoffentlich mit ihren Freunden, heil und gesund. Ihr Gesicht leuchtet, als sie dieses Paar beschreibt, Töpfer und Künstler, die Frau auch eine Weberin, Freunde der Familie schon seit Jahren, ohne eigene Kinder. Ihre Stimme senkt sich, als sie hinzufügt, “Mutter glaubt nicht, dass sie richtig verheiratet sind.”

“Ist ja auch wurscht, oder?” sagt Korinna, die es gehört hat. Genau.

Der Rotarmist, der an der Kreuzung den Verkehr regelt, lässt sie über die Strasse, aber dann ruft er hinter ihnen her, sie dürften nicht weiter in die Felder gehen, nur an der Strasse entlang.

“Noch schiessen, bumbum.” Nun hören auch sie es wieder. Aber bis hierher und nicht weiter, fühlen sie alle. Alle Muskeln streiken, die Energie ist endgültig hin. So setzen sie sich auf einen schmalen grünen Streifen neben der Strasse, schieben den Wagen an einen Baum. Foffie wacht auf.

“Was ist denn das? Die Fahne da hinten?” will er wissen.

“Eine Trikolore, eine französische Flagge,” sagt Anna. “Es bedeutet, dass ein Franzose in dem Haus wohnt.”

“Ist heute ein Festtag? Ein französischer Festtag?” fragt Foffie.

“Nein, es ist mehr wie eine friedliche Botschaft an die Soldaten,” sagt Anna.

“Ich hol’ mal Wasser,” sagt Foffie da und ist schon davongestoben. Korinna rennt hinter ihm her, und Mutti schlägt die Hände vors Gesicht.

“Lassen wir sie doch, es ist ja nicht weit,” begütigt Lilly. “Wir sehen ja, wo sie hingegangen sind.” Und sie beobachten alle das Haus.

Korinna kommt gleich wieder zurück.

“Sie wollen, dass wir reinkommen,” sagt sie ausser Atem. “Es sind sehr nette Leute. Ich finde wir solln’s machen.”

Eine Dame steht unter der Tür.

“Bitte kommen sie herein,” sagt sie. “Sie werden sich etwas waschen wollen. Ihre Tochter sagte …” sie starrt Mutter an. “Sie sehen sehr unwohl aus. Kommen sie herein, kommen sie.”

Es stimmt. Mutter hat keine Sekunde schlafen können. An ihrer rechten Wange zeigt sich ein Tic, aber sie merkt es nicht.

Eine halbe Stunde später sitzt Foffie auf einer Veranda hinter dem Haus und spielt ‘Dame’ mit einem blassen jungen Mann. Mutter hat eine heisse Brühe bekommen und liegt nun auf dem Sofa.

Die Mädel sitzen hinten im Garten, von einer Zedernhecke verdeckt, ihre Köpfe aneinander gelehnt, zu müde um zu sprechen, und halten sich bei den Händen.

Wenn die Schüsse draussen endgültig aufhören, werden sie sich durch die Wiesen schleichen und nach dem Heim der Freunde suchen. So haben sie beschlossen. Für jetzt ist dies eine unerwartete Insel des Friedens, mitten im unerträglichen Tumult dieser Tage. Wer ihre Gastgeber sind und wie es mit ihnen steht, ist schwer zu erraten.

Aber als sie bei Einsetzen der Dunkelheit sich auf den Weg machen wollen, protestieren ihre freundlichen Helfer. Herzlich verabschieden sie sich von ihnen, mit aufrichtigem Dank, aber bestehen darauf, weiterzugehen.

Die Maschinengewehre schweigen schon seit einiger Zeit, und sie suchen nach dem offenen Feld, den Havelwiesen, gehen durch ein Stück Wald, heben den Kinderwagen über Wurzelknollen, und da liegt direkt vor ihnen ein gefallener polnischer Soldat. Mit offenen Augen liegt er auf dem Rücken, einen Rosenkranz in den starren Händen. Eine Wunde ist nirgends zu erkennen. Sie stehen im Kreis um diesen unglücklichen jungen Menschen und brechen plötzlich in Tränen aus. Auch Foffie, im Angesicht seiner weinenden Frauen, den Wächtern seiner so verstörten kleinen Welt, den Erklärerinnen und Trösterinnen, Ernterinnen von Löwenzahn, und Erzählerinnen von Märchen und Liedern, da er sie hier so völlig fassungslos sieht, er weint nicht, er heult laut auf vor Terror. Und so knien sie bei ihm, trocknen seine Tränen, umarmen ihn und tragen ihn weiter wie ein Baby, schlucken ihre Trauer und fürchten sich vor seiner nächsten Frage.

“Ich will meinen Vati,” heult Foffie. “Ich will ihn wiederhaben. Wir sollen mit ihm gehen. Wo ist mein Vati?”

Dies ist kein guter Moment für eine Erklärung, dass Vati in den Krieg gezogen ist.

“Er kommt bald wieder,” sagt Lilly. “Sobald er irgend kann kommt er wieder.”

Mühelos finden sie das Behelfsheim, dicht an der Havel. Es ist unversehrt, die Tür unverschlossen, die Habseligkeiten der Freunde ordentlich an ihrem Platz, kleine kunstgewerbliche Schätze in den Fensternischen, Feldblumen in einer Vase. Aber es ist niemand zu sehen.

Sie essen nun Brot mit Kunsthonig. Foffie trinkt seine Milch. Von der Hintertür haben sie einen wunderschönen Blick auf den Fluss.. Alles scheint sehr friedlich, zu friedlich fast. Und als sie sich eben schlafen legen wollen, wird Mutti plötzlich von einer grossen Unruhe gepackt. Nein, sagt sie laut und entschlossen, dies sei keineswegs sicher, sondern im Gegenteil eine Falle. Alle hätten ja gesehen, wie sie hier herübergegangen wären. Wo könnten sie sich denn hier verstecken? Lilly wird im Nu angesteckt von der Angst, und sie beschliessen, einfach am Fluss entlang wieder in Richtung Berlin zu laufen, jetzt sofort. Den Kinderwagen lassen sie stehen.

Eilig laufen sie auf einem Waldweg entlang, den Fluss rechts neben sich, beiben meist von Häusern entfernt, durch Felder, Obstbaumreihen erst, und haben sich doch bald verlaufen. Immer weiter hasten sie. Wo werden sie die Nacht verbringen können? Wo sollen sie hin? Sie haben die Decke für Foffie mitgenommen, da die Nächte wieder kühler geworden sind. Seit über einer Stunde sind sie unterwegs, mal hier eingebogen, mal dort, da kommen sie an ein grosses Gebäude, das in einem Park gelegen und von einem schmiedeeisernen Zaun umgeben ist. Als sie endlich stehenbleiben und verschnaufen, öffnet eine Nonne ein Fenster im Obergeschoss.

“Nanu,” ruft sie, “was machen sie denn noch da draussen? Wissen sie nicht, dass Sperrstunde ist? Warten sie, ich komme runter.”

Sie gehen auf den Haupteingang zu, in der Gewissheit, dass in diesem Hause Sicherheit und Geborgenheit auf sie wartet, Schlaf und die Möglichkeit, sich auszuruhen und Kräfte zu sammeln für das Kommende.

Am nächsten Morgen macht sich Anna auf den Weg zurück an die Havel, zur Baracke. Geduckt rennt sie die letzten zwanzig Meter über die offene Wiese. Als sie an der Hintertür ankommt, weicht eine junge Frau in der Küche vom Fenster zurück und flüstert,

“Sind sie allein? Hat sie jemand gesehen?” Dann öffnet sie die Tür und zieht Anna hinein.

“Ich komm nur den Kinderwagen holen,” sagt Anna und deutet nach draussen.

“Ich kann nicht bleiben. Wir haben sie gestern abend gar nicht gesehen.”

“Nein. Wir haben den Wagen stehen sehen, als wir gestern spät hier reingeschlichen sind. Wir wussten nicht, ob noch jemand hier wohnt. Aber wir konnten hier nicht schlafen. Als wir die Soldaten kommen hörten, sind wir zur Havel gerannt und haben uns im Wasser versteckt.” “In der Havel? Nachts?” Die Frau nickt.

“Wir haben uns am Ufer am Schilf und Sträuchern festgehalten. Meine Freundin schläft jetzt. Wir wechseln uns ab. Leider musste ich ein paar ihrer Sachen borgen. Meine sind klitschnass.”

“Nicht unsere,” sagt Anna, “keine Sorge. Wir haben hier nicht gewohnt, haben nur Unterschlupf gesucht. Ich muss jetzt zurück. Viel Glück.” Sie blicken sich in die Augen und winken ein bisschen.

Anna macht sich mit dem Kinderwagen auf den Rückweg, über holprige Wiesenpfade, dann die Seitenstrassen, ohne sich einmal umzudrehen.

Warum die Frauen wohl da bleiben wollen? Haben sie nicht heute eine ähnliche Nacht zu erwarten?

Als sie im Kinderheim ankommt, deponiert eine Nonne den Korbwagen im Keller. Anna geht zu den anderen nach oben, in ihr Zimmer, und beschliesst, nichts von den Frauen an der Havel zu erzählen.

28. April, 1945

Heute wird Foffie fünf Jahre alt, aber er weiss es nicht, und die anderen haben es vergessen.

Lilly wird den Tag in den neunziger Jahren nicht erleben, an dem ein internationaler Gerichtshof Massenvergewaltigungen durch fremde Truppen offiziell zum Kriegsverbrechen erklärt. Mutti erlebt den Tag, aber erträgt es nicht, an die Leiden der letzten Kriegstage erinnert zu werden, und so bleibt ihr diese wichtige Entscheidung verborgen.