Anna und Foffie sind grade mit dem Pferdefleisch zurückgekommen und erzählen davon, wie sie die verwundeten Jungens an der Ecke getroffen haben, da läuft Tatjana aufgeregt herein und will die Schwestern hinauf nötigen, in ihr Versteck. Schnell rennen sie nach oben, und hören auch gleich darauf männliche Stimmen unten in der Diele. Tatjana spricht rasch. Die Antwort klingt zornig. Sie redet dauernd weiter auf die Eindringlinge ein. Dann knallt die Tür und die Stimmen verklingen draussen.
Die Mädel liegen flach auf dem Dach des notdürftig ausgebauten Zimmerchens im Dachgeschoss, wohin sich Vater mitunter zum Arbeiten zurückzog. Ansonsten ist der Dachstuhl im Rohzustand geblieben, mit allerlei alten Möbeln und Koffern zugestellt und der kaputten Waschmaschine. Wenn die Schwestern ganz hinten liegen und den Kopf flach auf die Decke legen, kann man sie von unten nicht sehen. Bis jetzt sind sie weit voneinander entfernt geblieben, um das Gewicht gleichmässig zu verteilen. Sie sind mit der alten Leiter hinaufgestiegen und dann hat Tatjana die immer hinten an den Boden gelegt. Diesmal steht sie freilich vorne, sehr verräterisch. Als sie wieder männliche Stimmen aus der Diele vernehmen, robbt Anna vorsichtig nach vorn und gibt der Leiter einen Schubs. Sie rutscht weg und fällt um, leider auch das Vorderteil der Zimmerdecke, die mit Anna herunterkracht. Sie landet auf allen Vieren auf dem handgeknüpften alten Läufer, hinter der Tür, die stehen bleibt, wie auch die Wände. Anna schleicht ganz schnell hinter das Zimmerchen und zwängt sich in den Spalt zwischen Schrägdach und der Hinterwand. Die Schwestern kriechen ganz nach hinten und halten die Luft an.
Stimmen nähern sich auf der Treppe, männliche Stimmen, auch Tatjanas. Schwere Stiefel halten vor dem Zimmerchen inne. Soweit gut. Dann hören die Mädel wie jemand die Tür aufreist und Tatjana Luft durch die Zähne zieht. Drei Männer reden auf einmal. Sie spricht sehr rasch, und Tatjana scheint sie wieder einmal überzeugt zu haben, dass sie gehen müssen. Aber die Mädel halten weiter den Atem an.
Später kommt sie allein herauf und bedeutet ihnen aufgeregt, sie müssten herauskommen. Sie hält die Leiter. Anna zieht sich heraus. Sie will unbedingt rasch in den Keller und ihr rotes Akkordeon mit ins Versteck nehmen, bevor es gestohlen wird, ihren einzigen Schatz. Sie würde die Quetsche entsetzlich vermissen. Sie guckt aus dem Dachfenster, ob die Luft rein ist, und sieht Lilly am Gartentor.
Lilly!
Sie rennen nach unten. Tatjana, sehr entsetzt, zieht sie in die Haustür. Lilly und Anna umarmen sich, aber Mutter kommt aus dem Wohnzimmer und wird unruhig.
“Ihr Mädels geht sofort wieder hinauf ins Versteck,” sagt sie, “du auch, Lilly.” Aber Lilly wehrt sich.
“Und wir sollen sie hier unten ganz allein lassen? Das fällt mir nicht im Traum ein.”
Tatjana ist hochrot geworden. Sie bedeckt das Gesicht mit den Händen. Dann macht sie Schriftzeichen in der Luft. Niemand versteht, was sie hat.
Sie schiebt alle in die Küche, in Richtung Speisekammer. Aber Anna rennt rasch hinunter in den Keller, wo sie das Akkordeon stehen hatte. Sie sucht überall danach, aber es ist weg. Als sie sich aufrichtet, um hinaufzugehen, stehen zwei Soldaten in der Tür, offenbar durch den Kellereingang gekommen. Der eine bewacht jetzt die Tür, und der andere kommt auf Anna zu, mit einem kleinen Lächeln. Sie sind angetrunken. Beide tragen sie eine lange Pistole im Halfter, aber Anna sieht keine anderen Waffen. Der vor ihr stehende Soldat zeigt auf das Notbett hinter ihr und bedeutet ihr, sich zu setzen. Er nimmt neben ihr Platz. Eine Hand legt er auf ihr Knie und drückt kräftig zu. In diesem Moment hören sie kleine Füsse im Vorraum, und Foffie kriecht durch die breiten Beine des Soldaten an der Tür. Dann setzt er sich bei Anna auf den Schoss. Der neben ihr schüttelt Foffie die Hand und fragt in gebrochenem Deutsch, ob das ihr Sohn sei. Anna nickt und hält Foffie umgefasst. Der fragt nun was denn die Soldaten in ihrem Keller machten, und Anna erklärt, dass sie wohl nach etwas suchen. Da ruft Mutter oben nach Foffie, und der macht sich los und rennt auf demselben Weg wieder hinaus, auf dem er gekommen ist. Der Soldat in der Tür folgt ihm auf dem Fusse, angelockt von der weiblichen Stimme im Obergeschoss.
Sofort legt sich die Hand wieder auf Annas Knie, der andere Arm umklammert Annas Hals. Das Lächeln ist verschwunden. Er sieht angespannt aus. Sie biegt sich von ihm weg, will ihn nicht küssen, wird sich nicht küssen lassen. Was mache ich nur? Was um Gottes Willen tut man jetzt? Seine Hand zieht ihre Trainingshose herunter, fühlt nach ihrer Unterwäsche. Mit beiden Händen kratzt sie ihn im Gesicht und am Hals.
Er versucht ihr Kinn zu drehen. Sie beisst zu, und er blutet an Daumen und Handgelenk. Mit dem Knie schubst sie ihn von sich und beisst und kratzt, wo sie ihn erwischen kann. Eine Minute lang hat er sie nun mit beiden Armen umklammert, da greift sie nach der Pistole und hat sie schon in der Hand, richtet sie gegen seine Brust. Er schreckt zurück aber versucht, ihr die Waffe zu entwinden. Sie zittert am ganzen Körper, hat noch nie eine Pistole abgefeuert, aber das weiss er ja nicht. Sie hat den Finger am Abzug, und er starrt hin. Sie nicht. Sie sieht ihm direkt ins Gesicht.
Auf einmal weiss sie was sie zu tun hat. Sie schleudert die Waffe unter das tiefe Einmachgestell an der gegenüberliegenden Wand, wo es ganz bis in die hintere Ecke rutscht. Der Soldat stösst einen lauten Fluch aus, lässt von Anna ab und sucht auf Händen und Knien nach der Pistole. Sie rast aus der Tür, nimmt die drei Kellerstufen in einem und rennt die fünfundzwanzig Meter zur hinteren Gartenpforte, der mit dem hakenden Schloss, und schmeisst sie hinter sich wieder zu. Dann stürzt sie ‘rüber zu Heyns Haustür.
Lieber Gott, lass sie zu Hause sein und mir aufmachen. JETZT!
Die Heyns haben sie zufällig durch ein kleines Seitenfenster kommen sehen und sind schon am Eingang. Sie öffnen genau in dem Moment, als der Soldat die Kellerstufen heraufkommt und sie im Nachbarhaus verschwinden sieht.
“Nach oben,” ruft Tante Heyn. “Auf dem Dachboden, der Schiffskoffer.”
Anna nimmt wieder drei Stufen auf einmal. “Die Tür geradeaus,” ruft Onkel Heyn. Sie machen sich auf enormen Krach an ihrer Tür gefasst, und da ist er auch schon.
In ihrer Panik hat Anna die Speichertür hinter sich abgeschlossen und schleicht auf Strümpfen die Holztreppe hinauf. Dieses Haus ist völlig anders gebaut als ihr eigenes, mit einer sechseckigen Diele im ersten Stock, fünf identische Türen führen in mehrere Zimmer, eine davon zum Dachstuhl.
Onkel Heyn begrüsst den verdutzten Eindringling mit russischen Worten, aber sieht sich sofort mit der Pistole bedroht.
“Wo ist sie?”
“Ich weiss es nicht. Sie müssen sie suchen,” sagt Onkel Heyn und folgt ihm die Treppe hinauf. Der Soldat zieht Schubladen auf, reisst Bettzeug auf den Boden, wirft Stühle um und rennt über die Diele in das gegenüberliegende Zimmer, richtet dort Chaos an und rennt wieder hinaus. Jedesmal, wenn er einen Raum verlassen hat, schliesst Tante Heyn die Tür hinter ihm. Er läuft hin und her, hin und her, zerschlägt einen Spiegel im Badezimmer — und schliesslich, nach einer halben Stunde, gibt er auf und trollt sich, zurück in Annas Haus.
Nach einer weiteren halben Stunde, als es so aussieht, als sei der Konvoi mit Lastern und Pferdewagen des Tross endlich oben um die Ecke gebogen, klopft Tante Heyn an die Speichertür.
“Er ist weg,” und Anna schliesst auf, setzt sich zitternd auf die unterste Stufe.
“Ich konnte ihn nicht erschiessen,” schluchzt sie. “Ich konnte es einfach nicht tun. Ich hatte die Pistole in der Hand, und ich habe mich zu Tode gefürchtet, aber ich konnte einfach nicht abdrücken.”
“Naja,” sagt Onkel Heyn begütigend, “es scheint ja so, als ob er mich auch nicht erschiessen konnte. Er war fuchsteufelswild, aber er hat nicht geschossen.”
“Und diese eine Türe hat er immer wieder verfehlt. Ist dauernd hin und her getobt, rein und raus aus allen anderen, aber er war von unserer komischen Diele verwirrt. Es scheint, dass sie jetzt alle abgefahren sind. Die Strasse ist frei.”
“Wenn ich sie nicht gehabt hätte. Ich weiss nicht, wo ich mich hätte verstecken sollen,” sagt Anna immer noch zitternd. “Wie kann ich ihnen nur genug dafür danken.”
“Ich sollte lieber mit dir mitgehen,” sagt Onkel Heyn jetzt. “Für den Fall der Fälle.”
Als sie um die Hausecke kommen, bleibt er erstaunt stehen und sieht sich einige grosse Schriftzeichen an, die jemand in den gelben Stuck gekratzt hat.
“Das bedeutet ‘Mädchen hier,’” und sie eilen ins Haus.
Anna steht hinter ihm in der Tür und sieht ein Schlachtfeld. Nadja lehnt mit dem Gesicht zur Wand und hält ein Stück Papier gegen ihre blutende Stirn. Hinter ihr der hohe Pflanzenständer ist zerstört, das Philodendron, der Topf zerbrochen am Boden, der Klavierstuhl liegt auf der Seite an der Wand, die Laute zertreten an der Treppe.
Aus dem Herrenzimmer tönt ein lauter Aufschrei. Lilly liegt seitlich zusammengerollt auf dem Sofa und wiegt sich hin und her. Mutter ist bis an das grosse Fenster hinter dem Schreibtisch zurückgewichen, beide Augen geschwollen, ihr Kleid zerrissen. Sie starrt den Nachbarn und Anna an, ohne sie zu erkennen. Korinna und Foffie finden sie oben in Tatjanas Schrank, verstört, aber sonst unversehrt. Tatjana ist verschwunden, obwohl alle ihre Sachen ordentlich an ihrem Platz liegen.
“Wir müssen weg,” flüstert Mutter. “Hier weg. Sofort.” Anna legt den Arm um sie.
“Ist gut, Mutti,” sagt sie, “wir gehen. Machen wir.” Lilly will nicht angefasst werden.
“Ja, es ist richtig. Sie können hier nicht bleiben,” sagt Onkel Heyn. “Ich komme gleich wieder.” Und er läuft rasch zurück nach nebenan.
Anna und Nadja tragen Foffies alten Peddigrohrwagen vom Speicher hinunter. Er ist geräumig und hat ein kleines Regal zwischen den Rädern.
Kopflos werfen sie alle möglichen Dinge hinein, Töpfe, Tassen, eine Decke, Kamillentee. Da kommt Tante Heyn mit Hosen und Pyjamas für Foffie und einem Paar Schuhe, von ihrem Sohn längst ausgewachsen. Sie hat auch ein Glas Kunsthonig, einen Schatz, und Reis. Sie sieht unbeschreiblich besorgt aus, aber als sie Mutters sieht, kann sie nicht sprechen.
Lilly steht jetzt in der Tür, ruhig und entschlossen.
“Für eure Mutter müssen wir jetzt ein Paar Hosen finden, das zerrissene Kleid wegwerfen. Und Ihr solltet alle mehrere Lagen übereinander tragen.” Sie rennen nach oben und kommen mit Vaters Gartenhose wieder. Die wird Mutti passen. Mit einer Bluse und einer Wolljacke unter dem Mantel. Auch sie ist nun tatbereit. Sie kann es nicht abwarten dieses Haus zu verlassen.
Im letzten Moment steckt Tante Heyn verlegen dreissig Mark in Annas Tasche.
“Gott behüte euch alle.” Sie küsst Foffie aufs Haar, der unbekümmert an Korinnas Hand durch die Tür verschwindet. Lilly und Anna heben den Kinderwagen hinunter. Und so machen sie sich auf den Weg, den vertrauten Bürgersteig ihrer Kindheit entlang, der Feindesland geworden ist, flüchten vor der entsetzlichen Szene, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen.