“Unser Nachbar brachte uns die neue Werbesendung herüber,” sagt der Anrufer, “er meinte ich sollte es mal durchlesen, falls es mich interessiert. Ihre Freundin Hilde gab mir diese Nummer. Störe ich auch nicht? Mein Name ist Frank Hornung, und ich bin so etwas wie ein Amateur-Historiker. Ich war in letzter Minute damals zu den Volkssturmjungen eingezogen worden. Aber ich möchte ihnen nicht Hoffnung machen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ich Ihnen gar nichts Wesentliches mitteilen kann, nichts, was Ihnen bei Ihren Nachforschungen behilflich wäre.”
Anna sitzt in Majas faulem Sessel, einen Schreibblock auf den Knien und Kugelschreiber in der Hand.
“Alles und jedes was Sie mir mitteilen können, ist für mich wichtig und von Interesse,” sagt sie. “Ich danke Ihnen erstmal, dass Sie sich überhaupt gemeldet haben. Sie sind der erste der anruft. Würden Sie mir vielleicht erst etwas mehr von sich erzählen? Von heute?”
Pünktlich um zwölf Uhr mittags klingelt es an der Tür, und da steht Frank Hornung mit seiner Frau Helga, zwei strahlende Rentner, die mit Anna zum Mittagessen fahren wollen.
Es geht in Richtung Norden, die Oranienburger Chaussee entlang, noch immer eingefasst vom Mischwald ihrer Kindheit. Rechts war der Fahrradweg gewesen, aber alles für zwei Generationen von Berlinern und ihre nördlichen Nachbarn gersperrt. Seit zehn Jahren sind die Grenzen wieder offen, die Mauer verschwunden, die Wachtürme und Hunde ein Ding der Vergangenheit. Anna erinnert sich an das Gefühl der Euphorie, als sie am Fernsehen in Toronto die Berliner sieht, oben auf der Mauer und sich umarmend, mit freudigen Gesichtern eine Freiheit begrüssend an die sie nicht mehr geglaubt hatten.
Als Anna 1990 in Berlin zu Besuch war, die Mauer offen, aber ‘check points’ noch intakt, waren Maja und sie mit zwei freudig herumsausenden Hunden an einen Grenzposten hingeradelt. Der fragte nur, wo sie wohnten und als Maja lässig rückwärts über die Schulter zeigte, winkte er sie durch die Sperre. Was für ein ergreifendes Erlebnis es gewesen war, in das kleine Dorf zurückzukehren, keine 10 km vom Heim ihrer Kindheit entfernt, aber drei Jahrzehnte wie hinter einer Nebelwand, und alle die alten Einfamilienhäuser an der Hauptstrasse unverändert wieder zu sehen, grauer und reparaturbedürftig, aber noch ohne die hemmungslos hingekleisterte rosa Reklamelandschaft des Westens, Zeichen des neuen Geldes. Bewohner standen in offenen Haustüren oder gingen langsam mit ihren Einkaufstaschen auf dem Kopfsteinpflaster entlang und sahen sie erstaunt an als sie da vorbeifuhren.
Frank und Helga haben es von innen erlebt. Aber jetzt sind es zehn Jahre seit dem Mauerfall, “der Wende”, ihrer ganzen Familie geht es eigentlich gut, sagen sie, und sie sind voll Hoffnung für die Zukunft.
Frank und Helga benutzen sehr geschickt ihre Bambusstäbchen, Anna Gabel und Löffel, indem sie sich dem sehr appetitlich angerichteten kantonesisch-deutschen Mittagsmenu widmen.
“Unsere Erlebnisse im April 1945 hier herum waren sehr unterschiedlich von den Ihren,” sagt Frank und tupft sich den Mund mit der Serviette.
“Wir hatten sehr viel Militär hier herum, und natürlich nördlich von hier in Birkenwerder und Oranienburg. Diese nördlichen Orte sollten bis zum letzten Mann verteidigt werden. Wenn es Ihnen recht ist, gehen wir nachher zu uns nach Hause zum Kaffee trinken, dann kann ich Ihnen mal mein Archiv vorführen. Ich bin Mitglied einer kleinen Gruppe von Freunden der Lokalgeschichte, mehr aus Liebhaberei.”
Helga reicht Anna noch mehr Reis und Bambus-Hühnchen, da stehen zwei grosse Jungen in Jeans in der Tür, an den Füssen Nikes, und in Baseball- Mützen, Schirm nach hinten. Thomas ist der Enkel, der Computer Afficionado, und Michael wohnt nebenan.
“Wussten wir’s doch, dass ihr sie hierher bringt,” lacht Thomas, aber die Jungen behaupten, sie müssten jetzt zum Fussball und könnten nicht mit essen. Anna beobachtet sie durch die Glasscheibe, als sie draussen ihr Skate Board aufnehmen und auf der freundlichen, baumbestandenen Strasse davongehen, eine Szene, die sich kaum von denen amerikanischer Vororte unterscheidet.
“Sie lernen ja jetzt Englisch und Französisch in der Schule,” sagt Helga. “Wir mussten ja Russisch machen.”
“Gar nicht so unnütz damals,” sagt Frank, “aber ich habe mich in letzter Zeit daran gemacht, mein Englisch wieder aufzufrischen. Lesen kann ich schon ganz gut, mit dem Wörterbuch zu Hilfe, aber das Sprechen macht mir noch Mühe.” Und nun reden sie über das Rätsel der Sprache, in welcher Form sie gleich nach der Geburt eine Rolle spielt, und wie der Mensch imstande ist, den Schatz einer Fremdsprache für Jahrzehnte in irgendwelchen Gedächtniskammern zu verwahren.
Anna erzählt die Geschichte von ihrer Mutter, die, in Hongkong geboren, die ersten drei Lebensjahre in der Obhut einer chinesischen Ama verbracht hat, wonach sie nie wieder mit der chinesischen Sprache Kontakt hatte. Als Mutter, im Alter von neunzig Jahren anlässlich Annas Besuchs ein chinesisches Restaurant gewählt und die ganze Familie um einen runden Tisch zusammengesessen hatte, ereignete sich Folgendes: Mitten beim Essen sagte eine Chinesin im Mantel etwas zu ihrem Personal und ging zur Tür. Mutter blickte kurz auf, und ohne zu zögern sprach sie mehrere Sätze, worauf die Dame verwundert stehenblieb.
Anna, Nadja, Korinna und Foffie liessen die Gabeln sinken.
“Mutti? Wir wussten ja gar nicht, dass Du Chinesisch sprichst.”
“Na hör mal,” sagte sie geniert, “ich kann doch nicht Chinesisch.”
“Ja, aber eben hast du doch etwas zu der Besitzerin gesagt, was sie auch verstanden hat? Was hast du denn—?”
“Ach, nichts Besonderes. Ich habe nur auf Wiedersehen gesagt, und dass das Essen köstlich schmeckt.” Dann führte sie wieder den Löffel zum Mund, völlig unbeeindruckt.
Frank und Helga sagen, dass sie das nicht für möglich gehalten hätten, und Anna hatte auch noch nie so etwas gehört.
“Wenn wir sie am Morgen gefragt hätten, ‘Mutti, wie sagt man eigentlich auf Chinesisch dass das Essen vorzüglich ist?’ hätte sie geantwortet, dass sie keine Ahnung habe, und auch mit Recht. Unser Hirn ist ein erstaunliches Geheimnis bis heute. Man weiss so wenig darüber. Wenigstens ich weiss sehr wenig darüber,” sagt Anna.
“Aber nein,” sagt Frank emphatisch, Sie sind ja nicht allein. Ich meine, die Wissenschaft steht da noch vor vielen Rätseln.” Anna sieht ihn an.
“Ich glaube, vor allem Sprache als Phänomen interessiert mich am meisten. Wie wir mit ihr umgehen, Information verarbeiten, mit dem Verstand, mit dem Gemüt, und das ganze weite Feld der ‘Fremd’—Sprachen. Was ereignet sich, wenn wir von der einen zur anderen übergehen? Das ist ja auch stark psychologisch überlagert.” Frank und Helga nicken heftig mit vollem Mund.
Anna erinnert sich, dass sie kürzlich eine junge Frau kennengelernt hat, die taub zur Welt gekommen ist. Sie hatte dann sprechen gelernt, ohne ihre Stimme hören zu können. Es war Anna zum erstenmal richtig klar geworden, dass diese Mitmenschen keine eigentliche Muttersprache haben, sondern lesen und schreiben lernen müssen, als sei es eine Fremdsprache. Zeichensprache ist die erste und ihnen eigene, enorm reiche und komplizierte Form der Kommunikation.
Sie sind in eine Auffahrt mit einem schön verzierten Eisengitter eingebogen. Der Zaun umgibt einen gepflegten, in frischem Grün stehenden Blumengarten, der Krokus schon verblüht, die Forsythien leuchtend gelb wie Fackeln. Eine runde Katze döst auf der Matte an der Tür. Anna will ihre Taschen absetzen und sie zwischen den Ohren kraulen. Sie vermisst ihre eigenen Katzen.
Das lange weisse Stuck- Haus ist von Frank vor vielen Jahren, Stück für Stück gebaut worden, wie eben Material zu haben war, oft ja sehr schwierig in den Jahren vor der Wende.
Anna wird in das gemütliche Wohnzimmer geführt, und Helga verschwindet in der Küche zum Kaffeekochen und Kuchen schneiden. Die deutschen Frauen der Nachkriegsgeneration haben alle gelernt, herrliche Dinge zu backen, aber erst als die Zutaten 1948 wieder zu haben waren. Alle ausser Anna, deren Bemühungen bis heute bei jedem zweiten Anlauf danebengehen, was noch mit Schuldgefühlen verbunden ist. Nein, Helga will keine Hilfe in der Küche.
Frank hat inzwischen den Computer zum Leben erweckt und eine dicke Akte aus einer Schublade gezogen.
Er bietet ihr an, alle seine Schätze mit ihr zu teilen, Fotokopien von Tagebuchnotizen, Luftaufnahmen, Wehrmachtskarten mit eingezeichneten Verteidigungslinien, Aufrufe an die Bevölkerung, Todesanzeigen, Leselisten, und die Aufzeichnungen einer Zeitgenossin während der letzten Kriegstage und dem ersten Nachkriegsmonat. Während er in einer Akte kramt bemerkt Frank, dass Anna die gerahmten Fotos an der Wand betrachtet. Sie zeigen freundliche Menschengruppen, die Arme um die Schultern der Nachbarn gelegt, die in die Kamera lächeln.
“Das sind Besucher aus unserer polnischen Partnerstadt,” sagt er. “Wir besuchen uns jedes Jahr gegenseitig und sind auch sonst eng verbunden. Helga und ich sind schon seit Jahren mit diesem Projekt beschäftigt. Wir sind fest davon überzeugt, dass nur Versöhnung der Weg zum Frieden sein kann,” fährt Frank fort und sieht Anna in die Augen. “Wir können diese Arbeit nicht länger andern überlassen. Dass man aufrichtige Zuwendung immer andern Instanzen zugeschoben hat, das hat ja eben die Welt in dieses unsägliche Unglück gestürzt.” Anna nickt und will grade fragen, wie man diese Botschaft ausser durch lebendiges Beispiel weiter verbreiten kann, da müht sich Helga mit dem Kaffeetablett durch die Tür, und sie fassen mit zu. Frank legt den Ordner erstmal auf den anderen Tisch. Er hätte gewiss geantwortet, dass sich die Kirche ja seit vielen Jahren eben darum tätig bemüht. Frank und Helga energisch mit dabei.
Als Helga wenig später zu einem Kursus aus dem Hause muss, umarmen sie sich an der Tür.
“Geh noch nicht,” möchte Anna ihr zurufen. “Ich weiss ja noch so wenig über dich. Ich habe so viele Fragen: wie ist denn euer Leben hier jetzt? Wie hat es sich verändert? Was hattet ihr euch als Kinder erhofft? Wie leben Männer und Frauen hier zusammen? Wo möchtet ihr als nächstes hinreisen?”
Dann fällt ihr aber ein, wieviel sie doch schon über Helga weiss. Es ist immerhin, lauter Gutes eigentlich. Und sie werden sich ja wieder treffen, beim nächsten Besuch halt.
“Hier draussen wurde der Volkssturm erst in allerletzter Minute mobilisiert,” erklärt Frank jetzt. Die Alten hatten nur einen oder zwei Tage Ausbildung an der Waffe. Man ging davon aus, dass sie sich mit den wenigen vorhandenen Gewehren, Handgranaten und ähnlichem Gerät auskannten.
“Nur die Panzerfaust war ihnen natürlich neu. Glücklicherweise kam die versprochene Munition nie an, und so wurden sie schlicht nach Hause geschickt, als ernsthaft geschossen werden sollte. Wir Jungen hatten auch einige Anweisung zum Waffengebrauch, aber vor allem brauchte man uns als Melder, zum Bau der Panzersperren und ähnlichem.”
“Waren sie am Ort zusammengefasst? Wie war das denn organisiert?” fragt Anna.
“Nein, wir gingen mittags nach Hause zum Essen, und schliefen nachts auch zu Hause. Traten morgens wieder an. Wir unterstanden Hitler-Jugend Führern, nicht der Wehrmacht. Wir sahen sie überall, es gab hier unheimlich viel Militär, aber wir hatten nicht direkt mit ihnen zu tun.”
“Und sie waren erst dreizehn Jahre alt?”
“Ja, grade man. Am Tage nach dem schweren Luftangriff auf Oranienburg, am 15. März, wurden wir aufgerufen und hatten uns mit der S-Bahn dorthin zu begeben, zu Rettungsarbeiten. Aber als wir nördlich von Lehnitz hielten und die Bahn nicht weiterfahren konnte, sprangen wir einfach hinunter auf den Bahndamm und gingen zu Fuss weiter. Bald sahen wir schon die Bescherung. Die Schienen waren wie Blumendraht nach oben gebogen, Riesenkrater überall. Die Bahnhofsanlagen waren total zerbombt, und es wurden noch überall Blindgänger gesichtet, und man warnte uns, wegzubleiben, da Zeitzünder vermutet wurden. Hunderte von Häftlingen waren schon bei der Arbeit, in gestreiften Anzügen — wir wussten zuerst gar nicht, wer diese Menschen waren, aber dann hörten wir, sie kämen aus dem KZ Sachsenhausen, — alle mühten sich ab, so gut sie konnten, ohne das nötige Hilfsgerät. Jemand sagte uns, dass mehr als vierhundert Bomber zu diesem Angriff auf das kleine Oranienburg eingeflogen seien.”
“Die Häftlinge, Herr Hornung. Konnten Sie mit denen reden?”
“Nein, unmöglich. Sie waren völlig abgeschirmt. Die hatten auch sichtlich Angst, bei irgendetwas Verbotenem erwischt zu werden. Guckten nicht links und rechts. Da haben wir uns dann zurückgehalten.”
“Haben Sie mit Ausgebombten zu tun gehabt? Wo hat man die untergebracht?”
“Ja, zunächst in den Schulen. Notdürftig. Wir haben halt mit angefasst, wo wir konnten. Danach werden sie in der Umgebung eingewiesen worden sein. Die Militärs waren vor allem daran interessiert, die kaputten Schienenanlagen wieder instandzukriegen. Da haben die Gefangenen dran geschuftet. Sie haben auch jeden Moment auf einen neuen Angriff gefasst sein müssen. Dabei brannte es noch überall. Sie hatten auch eine Menge Brandbomben geworfen. Spät abends gingen wir wieder den Weg an den Schienen entlang, bis wir in einen Zug einsteigen konnten. Ich kam gegen Mitternacht nach Hause. Meine Tante war natürlich furchtbar besorgt um mich.”
“Ja, das kann ich mir denken. Ja, und am letzten Tag, Samstag, den 21. April, glaube ich, da hatten Sie —?”
“Wir sollten an unserem Treffpunkt antreten, in der Nähe der Schule. Der Russe war schon ganz nah. Man konnte die Front längst hören. Sie schossen mit schwerer Artillerie über uns hinweg in die Stadt Berlin, unaufhörlicher Beschuss. Wir wussten, sie würden jeden Moment angreifen, und die ganze Bevölkerung war mit Betten und Proviant für mehrere Tage in die Keller gezogen. So am frühen Morgen sind mein Freund Robert und ich rübergegangen, uns melden. Und wir warteten und warteten, aber als unser Fähnleinführer endlich ankam, ganz aufgelöst, teilte er uns mit, dass doch nicht mit Munition zu rechnen wäre, und wir sollten uns vorsichtig durch Seitenstrassen nach Hause davonmachen. Es wurde überall geschossen, deutsche Soldaten waren an den Panzersperren, als wir über die Kreuzung mussten, aber wir sind heil nach Hause gekommen und haben schnell unsere Uniformen ausgezogen und versteckt.
Es wurde ziemlich unangenehm, denn auch nachdem die Strassengefechte endlich vorüber waren, die Kämpfe von Haus zu Haus, ging es immer wieder los, drüben in den Havelwiesen nördlich von uns. Da soll die SS besonders auch die Brücken bis zuletzt verteidigt haben. Tagelang ging es so weiter. Aber die russischen Panzer waren schon weit in die Stadt vorgestossen, hatten überall Brückenköpfe gebildet. Dann kam der ganze Tross: Laster, Panjewagen, Infantrie, und viele viele Pferde. Immer auf dieser Strasse lang, weiter nach Berlin.”
“Ja. Ich erinnere mich. Tausende waren unterwegs, fünf Minuten von meinem Haus, an der Ecke, aber sie kamen auch durch den Wald vom Osten her, aus Schönfliess, mit ihren T34, mit aufgesessener Infantrie, … bitte sprechen Sie weiter. Wer hat denn auf der deutschen Seite Munition gehabt? Irgendwer hatte eindeutig welche, oder?”
“Oh ja. Andere Einheiten schon. Wie viele Menschen ihr Leben lassen mussten! So viele Deutsche, Russen, Polen und so viele Verluste unter der Bevölkerung. Auch die polnische Kavallerie war da mit im Einsatz. Unter den verschiedenen Streitkräften auf deutscher Seite soll es zu grossen Konflikten in punkto Befehlsgewalt gekommen sein. Die SS hat alles an sich gerissen.”
“Naja, die Partei hat ja sogar mitgemischt. Wussten sie, dass mindestens theoretisch alle diese Einheiten der Partei unterstanden? Die Volkssturmeinheiten waren es wirklich, und was für eine totale Pleite das gab.”
“Die haben ja ständig nach Jugendlichen gesucht, um ihre schwindenden Einheiten aufzufrischen, Hitlerjugend und versprengte Landser. Alle in die SS übernommen.”
“Ja, es war dauernd von der Armee Wenck die Rede in den letzten Tagen, aber niemand schien zu wissen, wie oder wo sie sich einbringen sollte.”
“Die Bevölkerung war ja überhaupt über nichts mehr informiert worden. Das Radio funktionierte oft nicht, weil Stromsperre war, und die Zeitungen druckten nur noch Lügen, wie immer. Wir wussten doch nie, was man glauben sollte.” Anna nickt.
“Was ich fragen wollte, Herr Hornung, wissen sie etwas darüber, wie man die Toten und Verwundeten geborgen hat? Wer war dafür verantwortlich? Erinnern sie sich?”
“Ja, schon. Ich weiss noch, dass Nachbarn hinausgelaufen sind und oft wildfremde Menschen, Nachbarn und auch Soldaten in die Keller gezogen haben, und Notverbände angelegt. Einige Familien haben auf ihrem Grundstück vorläufige Gräber ausgehoben, um Tote wenigstens notdürftig zu begraben. Verwundete Soldaten wurden zum Wehrmachtssanitätsdienst gebracht, später halt zu den Russen. Immer wenn mal eine Pause im Beschuss war. Und Zivilisten haben auch Soldaten ins Krankenhaus geschafft, natürlich katastrophal überfüllt überall, viel zu wenig Personal — uralte Freiwillige. Da sind noch Leute gestorben, weil sich keiner beizeiten kümmern konnte.”
“Wie hat man denn die Verwundeten und Gefallenen aus den Wäldern geborgen? Wie war das organisiert? Wissen sie etwas darüber?”
“Ich habe keine Information aus erster Hand darüber, aber ich hörte, dass die Russischen Feldlazaretts sich auch um deutsche Verwundete gekümmert haben, erste Hilfe.”
“Ja, ich weiss, dass sie einigen unserer Jungens geholfen haben. Die wurden verletzt im Wald aufgelesen.”
“Die Rote Armee war sehr besorgt, dass Epidemien ausbrechen könnten. Sie wollten die Toten sofort geborgen sehen und haben das veranlasst.”
“Sie haben nichts von einer grösseren Anzahl Volkssturmjungen gehört, die tot oder verwundet in den Wäldern hier herum gefunden worden sind?”
“Nein, leider nicht, Anna. Ich hatte damit nichts zu tun. Meine Tante war einfach ausser sich bei dem Gedanken, dass uns in diesem späten Stadium des Krieges noch etwas zustossen könnte, sie liess mich nicht aus den Augen. Höchstens mal Wasser holen, oder nach Brot anstehen.”
“Ich habe so viele Fragen. Wenn es ihnen nichts ausmacht, würde ich gern mit ihnen korrespondieren, in Kontakt bleiben,” sagt Anna.
“Aber ja, natürlich werden wir das. Ihr Projekt interessiert mich doch,” sagt er energisch, und gibt ihr eine Mappe Fotokopien mit.
“Du, ich glaube ich habe heute neue Freunde gefunden,” sagt Anna, als sie mit Hilde am Abendbrottisch sitzt. Bei Hilde fühlt man sich immer wie in einem Wintergarten, denkt sie. Pflanzen und Schnittblumen überall, und durch die Balkontür hat man einen herrlichen Blick auf den Nachbarsgarten und hohe Bäume.
“Weisst du, unsere Welten hätten nicht weiter voneinander entfernt sein können, nach dem Moment in der Geschichte der uns alle einander so nah gebracht hat. Nach dem Umsturz. Aber ich habe das Gefühl, das wir uns schon immer gekannt haben. Als wir über unsere Familien gesprochen haben, unsere Hoffnungen, Sorgen, haben wir immerzu genickt, brauchten die Sätze nicht zu vollenden —und das obwohl die letzten fünfzig Jahre für sie doch ein so enorm schwieriges Schicksal sein mussten, politisch und auch sonst. Aber sie würden das nicht so formulieren, würden sich nicht beklagen. Sie sind beide ganz einfach positive Menschen. Frank und Helga sind die verkörperte Menschenfreundlichkeit. Ich weiss nicht wie ich es sonst ausdrücken soll. Es sind übrigens die zweiten ‘Ossis’, bei denen ich das so stark, so liebevoll ausgeprägt finde. Du, übrigens, ‘Ossis’ und ‘Wessis’, das ist ja auch nochmal so’n Judenstern, wie? So’n mieser Ankleber. Gefällt mir nicht.”
“Genau, genau! Viele haben das auch schon wieder aufgegeben, noch so’n Überbleibsel von der Wende. Zunächst war’s ganz harmlos, aber dann kriegte es so Ecken. Hast schon recht,” sagt Hilde. Es entsteht eine Pause, die die Freundinnen mit Gedanken über Sprache als Waffe, jede für sich, ausfüllen.
“Es klingt aber,” sagt Hilde, “als ob es ein rundrum guter Tag für dich war? Ihr habt auch ganz konkret über die Fragen reden können, mit denen du hergekommen bist?”
“Ja und nein, — das wäre ja ein Wunder, wenn Frank Hornung nun angerufen und alle Antworten diktiert hätte. Aber ja, wir konnten über sehr vieles sprechen und werden den Dialog weiter aufrecht erhalten, denn auch er schreibt an einer Arbeit über diese Zeit. Wir haben natürlich viele Erinnerungen verglichen . Es war wunderschön. Und wie ist es mit dir?
Wie war dein Tag denn so?”
“Ach, na ja. Eigentlich schön. Jo hat angerufen.” Sie verstummt. “Nach einem Jahr oder so.”
“Hilde?” sagt Anna nach einer Pause. “Ich erinnere mich genau an ihn, als er ungefähr vierzehn war, meine Emily und ich auf Berlin- Besuch mal wieder. Dein Jo war so schmal und behutsam, so ungewiss über sich, manchmal war man nicht einmal gewahr, dass er im Raum war. Er wusste nicht, was seine Gesellschaft eigentlich mit ihm vorhatte, und in einer viel und gescheit diskutierenden Familie konnte er sich damals auch nicht klar- quatschen, weisst du noch? Nun denk mal zurück an uns in dem Alter. Waren wir auch nur im geringsten Zweifel darüber, was ‘Grossdeutschland’ von uns erwartete? Gab es das geringste Zögern, es uns bei jeder Gelegenheit massiv vor Augen zu halten? Waren wir im Zweifel darüber, welcher Art diese Pflicht war, die wir zu tun hatten?”
“Ach natürlich nicht. Weisst du noch, während der Nächte im Bunker, beim Kriegseinsatz, da haben wir doch endlos darüber diskutiert. Nur, dass wir da von einer Zukunft gesprochen haben, und darüber, wie wir es mal besser machen wollten. Wir haben sowas wie Demokratie nochmal von vorne erfunden, glaube ich. So ähnlich.”
“Wirklich? Ich weiss es ehrlich nicht mehr. Hatten wir solche Ideen? Ich weiss noch, dass wir ewig Probleme gewälzt und uns auch mächtig gestritten haben. Die Jungens waren oft besser informiert, oder?”
“Stimmt ! Wir waren so hundemüde, aber wir haben immer die ganzen Nächte geredet, wenn wir auf Alarm warteten. Geredet und geredet. Wir haben ja erst gelernt, wie Jungens eigentlich denken. Wussten wir doch gar nicht, wegen der getrennten Schulen. Ich hatte einen viel älteren Bruder, der nie da war, und du hattest Foffie, der war damals zwei.” Anna nickt. Da klingelt das Telefon.
“Ach, beinah hätte ich es vergessen,” sagt Hilde. “Maja hat vorhin angerufen. Es sieht so aus, als ob wir Emma auf der Spur sind. Maja hat auf dem Markt mit einer Bekannten gesprochen, die mit Emmas früherer Schwiegermutter befreundet war. Sie hat gesagt, dass Emmas Tochter in Stuttgart oder Umgebung wohnt. Sie will mal nachsehen, ob sie irgendwo eine Adresse hat. Maja will am Mann bleiben.”
“Das ist ja grossartig. Stell Dir vor, wir finden endlich die Emma. Wenn die sich zum Beispiel noch an Sachen erinnert, die ich längst verschwitzt hab’, so Nachnamen von Jungens. Die Wehrmachtforschungsstelle hat keinerlei Unterlagen zu Volkssturmeinheiten der Hitlerjugend, weil sie damals schon keine Listen mehr geführt haben und niemand mehr Hundemarken bekam. Wir müssten die Namen der Ausbilder, und möglichst auch Geburtsdaten angeben können, um einen Schritt weiterzukommen. Aber sie haben uns keine Hoffnung gemacht. Haben sich sehr bemüht, aber nichts gefunden.”
“Also Maja meldet sich sobald sie was hört.”