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Berlin, Juli 1964
Nie alles wie früher

Der Wagen hielt vor Heyns altem Haus und Anna und die Kinder kullerten richtig heraus, und lachten. Nichts schien verändert, ausser dass der Stuck nun hellbraun war, mit dunkelbraunen Fensterrahmen und einer tiefblauen Tür. Tante Heyn stand schon im Eingang, ihre alten Augen voller Tränen.

“Was für eine wunnnnnderbare Überraschung,” rief sie mit ihrer tiefen Stimme, betrachtete neugierig die Kinder, umarmte Anna.

“Du siehst grossartig aus, eine wunderschöne junge Mutter,” und dann, “kommt herein, hereinspaziert. Ich habe Kakao gekocht. Die Kinder mögen doch Kakao?” fragte sie.

“Na, wie bist du denn darauf verfallen?” zwinkerte Anna. Tante Heyn machte die Tür zur Terrasse auf, die hinten in den Garten führte und Anna sah die vertraute Himbeerhecke am Zaun. Sonnenblumen an der gegenüberliegenden Seite und ganz hinten den alten Sandkasten, ein bisschen mitgenommen.

“Ich hab vergessen, dich nach ihrem Alter zu fragen, und habe jetzt vorsichtshalber die Sandschaufeln und Eimerchen aus dem Keller geholt—”

“Grossartig. Danke dir,” sagt Anna. “Anthony ist sechs und Emily ist zwei.”

“Werden sie sich auch nicht zu schmutzig machen?”

“Nein. Das ist ganz egal. Wir lassen sie nur eben den Kakao austrinken. Dann werden sie den Garten heimsuchen, keine Bange.”

Anthony nahm Emily bei der Hand, Eimer und Sandschaufeln in die andere und so wanderten sie hinten in den Garten.

Tante Heyn war schon immer tadellos organisiert gewesen. Anna fand den fertigen Tee im Wohnzimmer und einen Stapel Photoalben.

“Zucker? Zitrone?”

“Nein, danke. Es ist so wunderbar, dich nach all den Jahren wiederzusehen. Ich hatte schon Angst, du wärst vielleicht umgezogen, aber da stand dein Name im Telefonbuch, mit der alten Adresse. Toll.”

“Naja, ich hatte schon erwogen, nach Westdeutschland zu ziehen, nachdem mein Mann gestorben war. Ach, das weisst du ja noch nicht. Er hatte vor zwei Jahren einen Schlaganfall. Mein Sohn und Schwiegertochter hätten mich gern näher bei sich — er ist Jurist geworden, aber es hat für mich keinen Sinn, nach dreissig Jahren auf einmal im Alter in die Fremde zu ziehen.”

Anna nickte.

“Ich habe so oft an euch beide gedacht, auch unseren Freunden von euch erzählt. Ihr habt so viel für uns getan, uns so geholfen damals, aber ich hab ja schon am Telefon erzählt, dass ich jetzt seit sechs Jahren in Kanada lebe. Im Moment habe ich mit den beiden Kindern alle Hände voll zu tun.”

“Hör mal Anna. Wir haben wenig Zeit und viel aufzuholen bevor deine Freundin euch wieder abholt. Drum habe ich diese Photoalben herausgeholt, um das wichtigste zu schaffen.”

Da waren sie, auf fein säuberlich beschriebenen und numerierten Seiten, hier der kleine Sohn und der Dackel, der Sohn und das Kind der Haushaltshilfe im Sandkasten, der Sohn mit dem ersten Kinderrad, er und Annas Geschwister auf Rollschuhen, und hier ist ein Foto das Foffie neben einem eleganten, grossen Wagen zeigt, die Heynschen Grosseltern zum Abschied winkend.

“Die Schwiegereltern,” sagte Tante Heyn liebevoll.

Dann weitere Fotos einer Reise nach Italien und der Schweiz, die die Heyns kurz vor seinem Schlaganfall gemacht hatten. Er sieht angestrengt aus.

“Er hat die Reise ja soooooo genossen. Was für ein Glück, dass wir gefahren sind,” sagte Tante Heyn mit Nachdruck.

“Jetzt erzählt mir von euch. Wie geht es deiner lieben Mutter?” Und Anna berichtete nun wie sie nach dem Auszug aus dem Nachbarhaus versucht hatte, in einer kleinen Wohnung zurecht zu kommen, aber es nicht schaffte und nun in einem Heim mit ärztlicher Betreuung lebt.

“Regelmässige Mahlzeiten und Medikamente. Wir sind so erleichtert,” sagte Anna. Da fiel ihr Blick hinaus in den Garten, wo die Kinder im Sandkasten standen und in die Sonne blinzelten. “Wo kucken die denn hin?”

“Na, ich denke sie haben den Wachturm entdeckt,” sagte Tante Heyn, nüchtern und mit tiefem Seufzer. Anna rannte hinten zum Sandkasten und drehte sich um. Da stand er, weniger als drei hundert Meter vom Garten entfernt, mit zwei Grenzwächtern, Gewehr über der Schulter, die Anthony und Emily durch Feldstecher beobachteten.

“Kommt,” sagte Anna, “lasst uns schnell wieder ins Haus gehen.”

“Das ist es was mein Sohn nicht versteht,” sagte Tante Heyn, “wie ich tagtäglich mit dieser Provokation leben kann. Und meistens versteh ich das selber nicht. Die haben die beiden lieben alten Häuser in den Sandbergen gesprengt, um Platz für die Mauer zu schaffen. Weisst du noch? Ihr Kinder habt jeden Tag da drüben zusammen gespielt.” Anna nickte traurig.

“Aber alle meine noch verbleibenden Freunde sind doch hier. So viele Erinnerungen.” Sie trugen das Teegeschirr in die Küche.

Anna hörte kaum noch zu, bürstete Sand von Knien und Sandalen.

Und hier war schon Hilde zum Abholen.