29
März 2000
Zurück nach Berlin

“Emily? Habe ich dich geweckt? Hör mal, Liebes, ich habe meinen Flug erstmal abgesagt. Ich gehe für eine Woche oder so erst nach Berlin.”

“Ach ja? Wollt ihr Oma nun doch dort begraben?”

“Nein, nein. In Hannover, im Familiengrab. Nein, es hat nichts damit zu tun. Ich habe einige Papiere gefunden und muss mich mit ein paar Freunden treffen. Will ein paar Leute suchen.”

“Geht’s dir wirklich gut, Mom, ist alles in Ordnung? Du klingst mitgenommen, und das ist ja auch verständlich. Aber möchtest du nicht doch, dass einer von uns rüberkommt?”

“Nein danke, wirklich nicht nötig. Wir schaffen’s schon. Es ist nur alles viel komplizierter als wir erwartet hatten. Wir wollen’s nun einfach hinter uns bringen. Wir waren nicht drauf vorbereitet, dass ein Begräbnisinstitut nach fünfzig Jahre alten Scheidungspapieren fragt, aus Berlin!”

“Ach, fährst du etwa deshalb hin?”

“Nein, ich erzähl euch alles, wenn ich wieder zu Hause bin. Vielleicht ruf’ ich aus Berlin nochmal an. Sag bitte Anthony und Julia Bescheid, ja? Pass gut auf dich auf, Liebes. Du fehlst mir.”

“Du mir auch. Wiedersehen, Mom.”

Die Schwestern sehen Anna fragend an. Sie sitzen zusammengerollt in den Sesseln, die Schuhe auf dem Teppich.

“Alles in Ordnung in Toronto? Wie geht’s meiner Patentochter?”

“Ja, scheint allen gut zu gehen.”

“Sag mal, ist das wirklich eine gute Idee? Was ist, wenn die Papiere plötzlich eintreffen und wir grünes Licht kriegen. Foffie sagt, er hätte nur drei Tage Zeit und zwar nächste Woche.”

“Wo muss er denn hin? Kann er nicht da bleiben?”

“Nein, er hat’s doch gesagt. Er muss zu einer Konferenz nach Kiev, und er kann nichts verändern,” sagt Nadja.

“Also hört mal, wenn es passiert, dann passiert’s eben. Dann geht halt hin und begrabt sie ohne mich. Ich habe sowieso das Gefühl, mich verabschiedet zu haben. Die Requiem- Messe, und der kurze Gottesdienst in der Friedhofskapelle, das war so wichtig, und so schön,” sagt Anna.

Nadja hat eine Liste auf dem Schoss.

“Wollt ihr noch Namen dazu fügen? Wir haben genügend Karten.”

“Nein, ich glaube wir haben wirklich alle. Wenn man vierundneunzig wird, sind die Freunde alle schon verstorben. Es ist nur noch die Familie, die Nachbarn —”

“— und Schwestern, Sozialarbeiter, Reinemachefrauen,” sagt Korinna. “Ja, all die Engel.”

Berlin

Hilde und Maja am Flughafen Tegel, winken durch die Glaswand, schieben sich vor zur Tür, um mit dem Gepäck zu helfen.

Maja fährt wieder zu schnell, Hilde beruhigt den Bullterrier auf dem Rücksitz neben sich.

“Wisst ihr eigentlich, was ihr für Glückspilze seid, dass ihr eure Mütter so viele Jahre hattet?” sagt Maja und macht die Scheibenwischer an.”Als ich deine email bekam, musste ich mir erstmal die Augen reiben. Wisst ihr, dass ich meine Eltern vor vierzig Jahren begraben habe?”

“Ja,” sagt Hilde rasch, “es hilft schon etwas, wenn man sich sagen kann, dass sie ein langes Leben hatten, und so, aber man vermisst sie eben doch furchtbar, nicht?”

“Ich habe jede Woche angerufen,” sagt Anna, “egal, was anlag. Sie fragte immer, ‘wo bist du, meine Grosse?’ und wenn ich ihr’s sagte, antwortete sie jedesmal, ‘du klingst, als wärst du nebenan.’ Aber vor zwei Monaten konnte sie nicht mehr sprechen, und da habe ich sie eben angerufen und selber was erzählt, so kleine Dinge, Tägliches. Ich konnte sie atmen hören, schnaufen sogar. Eines Tages sagte die Schwester, dass sie den Hörer nicht mehr halten konnte, und da habe ich halt angerufen und gesagt, sie sollten sie von mir knuddeln. Letzten Donnerstag sagte die Putzhilfe, die ans Telefon gegangen war, es ginge ihr SEHR, SEHR schlecht. Und da ging mir plötzlich auf: mein Gott, sie stirbt. Diesmal wirklich. Und ich kriegte es mit der Panik, wie ich noch beizeiten hinkäme. Ich war draussen im Wald, im Häuschen, und hatte keinen Wagen da. Der einzige Zug war schon weg. Da habe ich eine Taxe genommen und bin die zweieinhalb Stunden direkt zum Flughafen gefahren, eben gerade noch beizeiten. Meinen Pass hatte ich durch einen lächerlichen Zufall in der Tasche. Ich habe vergessen, Nachthemden zu packen, und da draussen hab’ ich keine rechten Klamotten.

So Burschikoses halt, du warst ja da, Maja.”

“Ja, kam mit zwanzig Rollen Film wieder.”

“Jede mit Riesenelchen und Herbstfarben in Ontario.”

“Eure sind so viel dramatischer als unsere. Man muss sich als Tourist eben widmen, und ‘ne gute Kamera mitnehmen.”

“Wann war denn die Beerdigung? In Hannover, nicht?” fragt Hilde.

“Da wird sie sein. Ein Albtraum von Papierkrieg. Ich will gar nicht erst anfangen. Ich bin nur froh, dass ich noch beizeiten angekommen bin. Sie war im Koma, aber drehte den Kopf zu mir hin, als sie meine Stimme hörte und bewegte die Lippen. Ich hatte die Schwestern gebeten, ihr zu sagen, dass ich mich auf den Weg machte, und sie hat scheint’s auf mich gewartet. Sie ist dann acht Stunden später gestorben.”

Hilde langte nach Annas Schulter und drückte sie. Der Hund hustete.

“Ihr müsst die Unordnung entschuldigen,” sagt Maja. “Die oberen Räume werden renoviert. Ich muss sie endlich vermieten. Es ist einfach zu gross und teuer für mich. Ich schaffe die Rechnungen nicht mehr.”

Der Hund läuft ihnen nach oben voraus, und sie gehen herum und freuen sich über die guten Tapeten und Kacheln im Bad. Und dann setzen sie sich an einen Tisch mit wunderschönem Blick auf blühende Büsche draussen und verzehren einen von Majas eleganten Brunches.

“Warum bist du denn jetzt gekommen?” fragt Hilde, “ich hatte dich nicht vor dem Herbst erwartet.”

“Ja, so wars’ geplant. Aber ich habe etwas in Muttis Papieren gefunden, das eine ganze Kettenreaktion ausgelöst hat. Erinnert ihr euch noch an Emma? Vor siebzehn Jahren konnten wir sie nicht finden, zum Klassentreffen, wisst Ihr noch? Fanden Ellen in Bogota und Gisela in New York, aber sie war die einzige unter vierzig oder so, die wir nicht auftreiben konnten. Ich muss mit ihr reden. Hilde, du erinnerst dich noch an Fritze Breuer? Wir haben korrespondiert. Wisst ihr noch, Lilly? Die war immer genau im Bilde, wo alle waren. Jetzt ist sie schon so lange tot. Sie hat immer überall Geburtstagsbriefe und Weihnachtskarten hingeschickt, sie war wie ein Suchdienst. Immer wenn ich mit den Kindern herüberkam, ist sie zwei hundert Kilometer gefahren um uns zu besuchen. Sie erinnerte sich haargenau an alle Namen und Umstände der letzten Kriegstage, aber sie wollte nicht mehr davon sprechen, konnte es einfach nicht. Kunststück. Maja, sag mal, fährst du immer noch mit den Hunden raus auf’s Stolper Feld?”

“Ja natürlich,” sagt Maja, “ich und alle anderen Hundebesitzer der nördlichen Vororte. Es ist jedesmal eine Kundgebung.”

“Sind da noch irgendwelche Überreste der alten Flakstellung, der Baracken, irgendwas, drüben nah am Waldrand?” fragt Anna.

“Ich glaube nicht. Sie haben ja nach dem Fall der Mauer einen Teil des Feldes in einen Golfplatz verwandelt. Warum kommst du nicht einfach morgen mit? Spaziergang.”

Fritze und Inge Breuer standen im Telefonbuch. Der Hausherr war nicht im Geringsten überrascht, von Anna zu hören. Das letzte Mal hatten sie sich gesehen anlässlich Annas Besuchs in Berlin zur Zeit des Mauerbaus. Als Anthony drei Jahre alt war.

“Ich bin im Knast,” hatte er damals mitgeteilt. Er war grade zum Direktor der Abteilung für Familienbetreuung befördert worden, in einem Berliner Gefängnis.

“Ach, da haben die Gefangenen aber Glück,” war Anna rausgeplatzt, “mitunter kriegen sogar die Bürokraten was richtig hin. Finden den idealen Mann.”

Zehn Jahre davor hatte sie einen schwarz umrahmten Trauerumschlag bekommen, mit dem Fritz und Inge mitteilten, dass sein Vater verstorben war. Muttchen nun allein. Anna hatte damals kondoliert, und seither tauscht man Weihnachtsgrüsse aus, und Inge hatte letztes Jahr sogar ein herrliches Altberliner Kochbuch geschickt.

Sie wohnen noch in derselben, geschmackvoll und gemütlich eingerichteten Wohnung, stellt Anna fest.

“Ooooh, mir geht’s eigentlich gut. Ein By-Pass, ein bisschen Ärger mit dem trottligen Bein ab und zu, die Niere, nichts Ernstes. Es ist Inge. Sie lebt ständig mit Schmerzen, Tag und Nacht. Die können ihr nicht helfen. Wir waren überall.”

Inge giesst Kaffee ein, wieder wie aus dem Ei gepellt, hinter sich die schön gerahmten Fotos der Enkel: drei fröhliche Jungen, die fliessend Griechisch und Deutsch können, und singen und Musik machen.

Inge will nicht über die Schmerzen reden. Inge will Anna in der Stadt herumfahren, zeigen, was sie “im Osten” alles wieder aufbauen. Ins Konzert? Die Oper? Aber Anna, so dankbar sie ist, möchte jetzt kein Programm geboten kriegen. Sie sprechen darüber, dass Inge in wenigen Monaten auch pensioniert wird.

“Ich zähle die Tage,” sagt sie. “So kann ich ja nicht arbeiten.”

Inge meldet sich in der Küche am Telefon. Nun steht sie mit dem Wagenschlüssel in der Tür.

“Ein kleiner Unfall, nichts Schlimmes, aber ich muss hin. Bin in einer Stunde wieder da.”

“Inge? Echt nichts —? Sollen wir—?” Er sieht nur mässig besorgt aus, genau wie in den alten Tagen.

“Es ist schon gut. Wirklich. In einer Stunde bin ich wieder da.”

Fritze und Anna sitzen, in Gedanken versunken, jeder entspannt in der Stille, im Bewusstsein ihrer alten Freundschaft. Dann sagt er,

“Wann haben wir uns eigentlich das letzte mal gesehen?”

“Im August 1961, gleich nach dem Mauerbau.”

“Ach, du grosser Turm. Da hab ich ja ‘ne Woche zerknautscht in der Ecke gelegen.”

“Kunststück,” sagt Anna. “Die ganze Stadt deprimiert wie —”

“Na, wie die Hölle. Aber als der janze Spuk vorbei war, hamse sich genau so gewundert. He, da haste doch angerufen! Hast uns erzählt, dass bei euch in den Nachrichten die Ostberliner und die Westberliner zusammen oben auf der Mauer getanzt haben. Wir sind ja gleich hingefahren.”

“Ach ja. Hatte ich ganz vergessen. Ich wollte damals sofort in den nächsten Flieger steigen. Sowas von euphorisch.”

“Jetzt sind wir ein paar Speichen runtergerutscht, aber das is ‘ne andere Sache,” sagt Fritze. “Was bringt dich denn diesmal zum Schauplatz deiner Jugendsünden?”

“Du weisst doch noch, dass wir zum Volkssturm eingezogen waren, und in den Baracken der alten Flakbatterie vier Wochen lang—”

“Ja, ich erinnere mich,” sagt Fritze. “War’n da nicht auch noch ein paar von den andern Mädeln aus den Nachteinsätzen dabei? Lilly, war’s Lilly, und die Kleene. Und die Freche mit dem Herrenschnitt?”

“JA, Emma. Im Moment suchen wir nach EMMA. Verglichen mit dir war’n wir alle klein. Ich würde sie so gern wiedersehen. Ich will versuchen, unsere Geschichte vom Stolper Feld aufzuschreiben. Unsere Geschichte einfach. Vielleicht kann sie sich an irgendwelche Namen erinnern, Nachnamen, meine ich, die mir einfach längst entfallen sind. Dann könnte die WAST- Dienststelle hier in Berlin nach den Gräbern forschen. Lilly ist ja schon so lange tot.”

“Lilly ist gestorben? Prima Mädchen.”

“Ja, schon lange her, aber ich vermisse sie immer noch. Sie war eine meiner engsten Freundinnen.”

“Sie war wirklich, na echt gut. Alle hatten ‘se die Lilly gerne.”

Sie schweigen und sehen auf den Teppich.

“Weisst du, wir hatten vier Ausbilder da draussen,” sagt Anna da.

“Die sind einer nach dem anderen über Nacht abgehauen. Wir hatten einen Feldwebel — an den Namen kann ich mich einfach nicht mehr erinnern. Den haben alle hoch gehalten, ein guter Kerl. Dem haben wir vertraut.”

“Hattet ihr da Glück. Uns haben sie ja einfach mit den Panzerfäusten in die Nachbarschaft verstreut, da am Flakbunker im Humboldthain.

Mensch, Anna, soweit ich weiss, ist über den Volkssturm so gut wie nichts dokumentiert worden. Da ging ja schon alles durcheinander.”

“Ja. Stimmt.”

“Emma ist die Letzte?”

“Ja, und ich würde gerne wissen was mit dem Feldwebel geworden ist. Gerber oder Dregger, sowas.”

“Wieso eigentlich?”

“Ach, der Feldwebel hatte verzweifelt nach ‘nem Rezept gesucht, mindestens die Jüngsten irgendwie in Sicherheit zu bringen, aber es ist ihm nicht genug Zeit geblieben. Ich bin überzeugt, es ist ihm von Anfang an mächtig an die Nieren gegangen, erst zuzusehen, wie ‘die Führung’ über hundert Jungens einen Monat lang hat hungern lassen und ihm dann aufgetragen hat, sie an das Projekt: “Ohne Rücksicht auf Verluste,” auszuliefern. Er hat uns nicht im Stich gelassen, wie wir gedacht haben, sondern zum guten Schluss hat er keinen andern Ausweg gesehn, als selber abzuhauen. Er wusste ja, dass er der einzige war, den wir anerkannt haben, und hoffte wir würden es ihm nachmachen. Er hat es alles Ulli auseinandergesetzt, einem der Berliner Jungens, wohl in der Hoffnung, dass Ulli es weiterreichen würde, aber der meinte, in den Fusstapfen seines gefallenen Vaters schreiten zu müssen. Wird ihm später wahnsinnig auf der Seele gelegen haben, da bin ich sicher.” “Also ich weiss nicht.” Fritze mustert die Decke.

“Ich hoffe bloss, dass der Feldwebel wenigstens heil nach Hause gekommen ist. Keine Ahnung mehr, wo er eigentlich her war,” sagt Anna. “Ein einzelner deutscher Soldat in Wehrmachtuniform wurde damals in der Nähe der Bahnunterführung tot aufgefunden, als sie das Gelände aufgeräumt haben. Nachdem der Munitionszug hochgegangen ist. Ungefähr zwei Wochen nach Kriegsende oder so.”

“Au weh. Du willst mir doch nicht sagen, dass die Munition da raus geschickt haben?”sagt Fritze. “Einen ganzen Zug? So spät?”

“Einen ganzen Zug, lauter Waggons voll, und die Bahnanlagen flogen dann in alle Himmelsrichtungen. Ein Mann ist einen Kilometer weit entfernt von einem Trümmerteil erschlagen worden.”

“Ich werd’ verrückt. Da hamse uns Jungschen mit Munition schier erdrückt, aber ohne Waffen, und den Alten hamse Maschinengewehre und allen möglichen Kram geliefert, bloss keine Munition. So gewinnt man Kriege. In meiner Nachbarschaft sind die Opas schlicht und einfach nach Hause geschickt worden.”

“Bei uns ist ja am Bahnhof ein bisschen rumgeschossen worden, und beinah hätten sie die Brücke gesprengt, aber dann haben sie stattdessen alle Geschäfte angesteckt,” sagt Anna.

“Eine ernstere Frage, Fritze, aber wie denkst denn du heute darüber? Bist du für den Wehrdienst? Den gibt es in Kanada nicht. Im Kriegsfall muss die Regierung erst einen Gesetzesvorschlag einbringen, ob oder ob nicht. Die Kanadier finden, die Leute sollten wählen dürfen, ob sie Soldat werden wollen oder nicht. Und das Land hat unheimlich viele amerikanische Wehrdienstverweigerer aufgenommen, damals im Vietnam- Krieg. ‘Draft Dodgers’ haben sie sie genannt zu Hause, ziemlich abfälliges Wort. Und sie wurden von vielen Landsleuten verachtet. Aber wir haben damals eine Menge von ihnen kennengelernt in Toronto. Das waren meist grossartige Kerle, einsam und mit Heimweh, aber prima Kerle, und wir waren froh, dass die kanadische Regierung sie reingelassen hat. Na, da habe ich ja jetzt so ziemlich klar gemacht, wie ich darüber denke.”

“Naja, ich bin beeindruckt,”sagt Fritze. “Ziemlich bemerkenswert. Im Land deiner Herkunft haben sie die Leute bekanntlich erschossen, die Wehrdienst verweigern wollten, oder haben sie in KZs gesteckt im krieg.”

“Ja, ich weiss noch. Aber es sollte kein solches Tabu sein. Ich werde nie vergessen, in den frühen siebziger Jahren, glaube ich, war es, da hat eine Mutter aus Kalifornien die Regierung der Vereinigten Staaten verklagt, ihren Sohn widerrechtlich eingezogen zu haben. Es sei gegen die Verfassung. Sie habe ihren Achtzehnjährigen nicht dazu erzogen, ein Killer zu werden. Kann man sich den Mut vorstellen? Und denk bloss mal an die Lage, in die der Junge dadurch geraten ist!”

“Was ist denn passiert?”

“Ach, zum Schluss hat sie verloren, aber denk mal drüber nach, was sie für ein Beispiel gegeben hat. Sie hat das ganze Land dazu gekriegt, sich mit dieser Frage zu beschäftigen.”

“Und je älter ich werde, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass wir diese Tradition in Zukunft abschaffen müssen.”

“Ich will auf keinen Fall, dass eine Generation von Achtzehnjährigen irgendwo hingeschickt wird, um meine Freiheit, meinen Lebensstil und mein Hab und Gut zu verteidigen, verdammt. Nicht mit ihrem Leben, das kann ich nicht erwarten, habe kein Recht darauf,” sagt Anna.

“Naja, wenn ich mir die Geschichte ansehe, da fällt mir doch auf, dass die Länder mit dem dickeren Knüppel die unfeine Angewohnheit haben, über ihre schwächeren Nachbarn herzufallen. Moralische Rechtfertigung ist ihnen doch egal. Hauptsache sie gewinnen. Denk doch nur ans zwanzigste Jahrhundert,” sagt Fritze.

“Ich habe eine unfreundliche Idee, unfreundlich gewissen Leuten gegenüber, die Riesensummen investiert haben. In Zukunft, wenns so aussieht, als ob eine Regierung ein Land angreifen wird, Nachbar oder sonstwo, dann sollte es Pflicht aller Medien sein, eine komplette Offenlegung aller Investitionen der einflussreichsten Regierungsmitglieder und ihrer Angehörigen zu veranlassen. Ich weiss was du sagen wirst: es klingt wie eine Verletzung der Privatsphäre, aber es wäre mir lieber als eine Verletzung internationalen Rechts. Es könnte dazu führen, dass viele Eltern sich zweimal überlegen, ob sie ihre Kinder hinausziehen lassen, die sogenannten Vaterlandsinteressen zu verteidigen.” Fritze holt tief Luft.

“Was ist wenn sie nicht irgendwo hingeschickt werden, sondern dein Land angegriffen wird, wenn die einmarschieren? Wie willst du dich verteidigen? Man muss sich doch wehren dürfen. Hoffst du darauf, dass ‘big brother’ es an deiner Stelle tut? Dass andere dich überstimmen?”

“Auf keinen Fall. Kanada hat ja auch militär, aber was endlich geschehen muss, ist die Reform der Vereinten Nationen. Die alte Dame muss endlich neue Zähne kriegen. Ich meine immer noch, dass dies potentiell der beste Weg zu einer friedlichen Welt sein kann. Wir müssen doch ganz wo anders ansetzen. Neulich habe ich mitten in der Nacht in Toronto mit Jemandem in der Notaufnahme gesessen, und mich umgesehen, und da habe ich gedacht, wir werden keine Harmonie in der Welt haben, solange wir uns nicht freimachen von dieser Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden Anderer. Erst wenn wir uns aufschliessen, weisst du was ich meine, richtig zuhören, zuwenden, mit trauern. Ich glaube, die Ursachen für Krieg würden verschwinden. Aber wir bewegen uns in entgegengesetzer Richtung. Die Kälte dem Nächsten gegenüber wird immer schlimmer.”

“Naja, sowas ist mir schon damals im Knast durch den Kopf gegangen. Kannst recht haben. Ham wer damals ewig drüber diskutiert.” Einen Moment sassen sie wieder still in ihre Gedanken versunken.

“Sag mal, woran ist Lilly eigentlich gestorben? Hatte sie Kinder?”

“Brustkrebs. Ja, drei. Ich war gerade nach Deutschland gekommen. Dann ist sie am nächsten Tag gestorben. Sie hatte einen Pastor geheiratet. Hab ich dir das damals nicht erzählt? 1961, gleich nach dem Mauerbau hab’ ich sie besucht.”

“Wieder vergessen.” “Der Mann so viel älter als Lilly, schon im Ruhestand, alle Kinder erwachsen, und die Älteste kümmerte sich mit um ihn.

Für die Gäste war nach der Beerdigung ein Mittagessen geplant. Wir sassen an diesen langen Tischen in einer gemütlichen Dorfschänke. Alle erzählten von Lilly, wie sie die Gemeinde zusammengehalten hatte, Frieden in der Familie gestiftet, den einsamen Alten kleine Briefchen geschickt, und so. Da fiel mir eine Geschichte ein von der Zeit, als wir beide sechs waren, und ihre sagenhafte Grossmama das einzige Mal aus Königsberg zu Besuch kam. Lilly hatte ein wundervolles Samtkleid an mit Spitzenkragen und eine doppelt gebundene Schleife auf dem Lockenkopf. Aber die Grossmama erst!

Sie war zurecht gemacht wie die Queen Mother, mit Perlenketten geschmückt, und sie thronte auf einem enormen Polstersessel. Na, wir waren zu dieser Teetafel eingeladen und wurden zusammen in das Besuchszimmer eingelassen, Lilly allen voran. Sie ging hin und knickste vor ihrer Grossmutter, (die sie übrigens Elisabeth nannte, nie Lilly,) und dann, dann küsste sie ihr die Hand. Wir waren natürlich erstmal etwas überwältigt, aber wollten uns ja auch nicht lumpen lassen, also sind wir eine nach der andern hin, haben geknickst und der Grossmama ebenfalls die Hand geküsst. Die verzog keine Miene. Aber das Beste kommt erst. Mindestens den ganzen nächsten Monat sind wir alle in Berlin ‘rumgegangen und haben erschrockenen älteren Damen was vorgeknickst und ihnen die Hand geküsst…”

“Na, wie ist denn das auf Lillys Beerdigung rübergekommen?”

“Alle haben herzlich gelacht. Ja. Nur ich fing plötzlich an zu heulen und konnte nicht wieder aufhören.” Anna stockt, und Fritze wirft einen besorgten, fragenden Blick herüber.

“Weisst du noch, als du mich ein paar Wochen nach dem Zusammenbruch besucht hast? Wir sassen oben auf dem kleinen Balkon am Boden und haben gequatscht und gequatscht. Aber du hast kein Wort darüber gesagt, wie es war, als du den Granatsplitter ins Bein gekriegt hast und blutend da auf der Strasse gelegen hast, bis einer kam—”

“Muttchen,” erinnert Fritze sie. “Sie ist mit einem weissen Handtuch in der Nachbarschaft rumgelaufen, als grade mal nicht geschossen wurde und hat immer ‘Fritze, Fritze!’ gerufen.”

“Du, das hatte ich total vergessen!” “Ich schwöre, ich war drauf und dran, bewusstlos zu werden, aber ich hab meinen Arm hochgestreckt, und dann war ich weg. Na, Muttchen hat sofort paar russische Soldaten angemacht, geflucht und gezetert, sie sollten mich da raustragen. RAUSTRAGEN, und das haben die ganz verdattert auch gemacht. Bis zu unserm Wohnhaus. Und da kam so’n russischer Sani und hat erste Hilfe geleistet. Denn bin ich von ‘nem Einschlag von ‘ner Panzergranate gleich an der Ecke vor lauter Schreck wieder uffjewacht. Und hier bin ich immer noch. Nich’ kleinzukloppen, hamse damals schon gesagt.”

“Genau. Hier biste. Ich hab Muttchen ja nur einmal erlebt, aber sie hätte General werden sollen. Niemand hätte gewagt, der was abzuschlagen. So entschlossen. Du bist ein Glückskind.”

“Hab ich auch schon immer gesagt.”

“Als du damals bei deinem Besuch davon erzählt hast, hörte es sich so wahnsinnig komisch an. Du hast es verstanden, auch der schlimmsten Lage einen Krümel Humor abzuringen — du hast uns doch enorm geholfen damit, und deshalb warst du so beliebt. Hast immer noch diese Ader.”

“Wer, ich? Echt? Na, ich bin Berliner, denen bin ich das schuldig, oder die ziehen meine Mitgliedskarte ein. Da oben auf Euerm Balkon, da habe ich mir nur dauernd überlegt, warum es da nach Hamsterstall gerochen hat…”

Fritze grinst vor sich hin. “Meine Schwester hatte mal’n Hamster. Den mussten wir nachher rausstellen. Hat infernalisch gestunken, das süsse Tier.”

“Ach, du liebe Güte. Die Karnickel. Ich fang ganz von vorne an, ja?”

“Ich wäre dankbar dafür. Es fällt einem immer leichter, der Handlung zu folgen.”

“Also schön. Eines Tages brachte uns jemand ein kleines weisses Kaninchen. Du kennst die ja, mit den roten Augen. Eigentlich waren unsere Eltern nicht entzückt, weil sie nicht wussten wie wir das versorgen sollten, aber dann haben sie es doch für pädagogisch wichtig empfunden, und es kam sogar ein Schreiner und baute einen ordentlichen Stall hinterm Haus, so anderthalb Meter vom Boden. Wir liebten das Tier nicht besonders. Es hatte überhaupt keine Eigenschaften, weisst du, was ich meine?” Fritze nickt heftig.

“Als der Rasenmäher kaputt ging, brachte uns ein Nachbar ein verschiebbares Gestell, so mit Hühnerdraht, unten offen. Da kam Mucki auf den Rasen, frass schön alles platt, und das Gestell wurde immer weiter geschoben. Eines abends haben wir vergessen, sie in ihren Stall zurück zu tragen. Am Morgen sass sie sehr beleidigt da. Vor allem aber entdeckten wir am Rand des Gestells ein Loch, das uns ein Rätsel aufgab: Was um Himmels willen ist denn hier los? Da hat das dumme Vieh erst wie wild ein Loch gebuddelt, um die Freiheit zu suchen, und dann hat sie sich das wieder anders überlegt??” Fritze nickt und grinst.

“Nach sechs Wochen oder so hat’s sich aber aufgeklärt, wie?” sagt er.

“Woher wusstest du? Fünf braun- und- weiss- gemusterte Häschen lagen da. Auf einmal interessierten wir uns viel mehr für den Kaninchenstall und gingen jeden Tag vor und nach der Schule Löwenzahn suchen. Als sie grösser wurden, kam der Schreiner wieder und baute zwei weitere Ställe. Grösser diesmal. Unsere Mutter teilte die Hasen ein nach dem Prinzip: ‘dieses ist niedlich. Das ist ein Mädchen.’ Linker Stall. ‘Das da ist ein frecher Brocken.’ Rechter Stall. Zeitraffer. Ein Jahr später hatten wir sechsunddreissig Karnickel. Zum Glück konnten wir elf davon verschenken. Der Schreiner war da längst eingezogen, und einige kamen in alte Kisten und ein paar waren überhaupt ausgebüchst, aber es war schon eine Prüfung im biblischen Sinne.”

“Und dann? Dann habt ihr se aufjegessen,” sagt Fritze hoffnungsvoll. “Fünfundvierzig.”

“Nein, eben nicht. Nach dem Umsturz haben wir sie oben auf den kleinen Balkon gebracht, damit ihnen nichts passiert. Aber als Foffie immer dünner wurde und als wir kapierten, dass wir den Löwenzahn selber essen mussten, den wir immer für sie gesammelt hatten, da haben wir dann Mucki unter dicken Tränen zum Fleischer gebracht, und der hat uns zwei Pfund anderes Fleisch dafür gegeben.” “Na Gott sei Dank,” sagt Fritze.

“Ja, aber so leid es uns getan hat, dass Foffie immer in der Küche stand, um zu sehen, ob auf dem Herd was kocht - geklagt hat er nie — wir konnten die andern einfach nicht schlachten. Es ging nicht.”

“Ja und dann,—”

“Dann haben wir sie einmal abends in Kartons in den Wald getragen und laufen lassen. Da sind sie losgehoppelt. Das haben wir Foffie auch gesagt, und er war hoch erfreut. “ Fritze kratzt sich hinterm Ohr.

“Danke dir, dass du nicht gelacht hast,” sagt Anna.

“Haben eigentlich deine Kinder eine Vorstellung von deiner Kindheit hier? Hast du es ihnen mal so geschildert, die Gänsehautstrecke abgefahren?”

“Glaub’ ich nicht. Sie haben ein Gefühl für ihre Herkunft, ihre Familie hier mit all den Vettern und Onkeln und Tanten, die sind ihnen so nah. Und sie haben natürlich viel Fotos gesehen. Die kennen sie.”

“Aber sagst du nie was über den Krieg? Nie?”

“Natürlich schonmal. Kürzlich haben wir mal ein Album mit schwarz-weissen Fotos angesehen, aus den dreissiger Jahren. Foffie war noch gar nicht auf der Welt. Wir standen auf der Strasse und guckten hoch, und da haben Anthony und Emily gefragt, ob wir Vögel beobachtet hätten. Anthony ist ein passionierter Vogelkenner, und da habe ich ihnen von dem Schokoladeflieger erzählt. Es war Sonntag und wir warteten, ob er wohl heute nachmittag wieder käme. Es war einer von diesen kleinen Fliegern, die einen Werbestreifen hinter sich herziehen. Dieser war für Trumpf- Schokolade, und er warf immer so kleine glitzernde Fallschirme mit Schokoladepaketchen ab. Die kamen ganz langsam aus dem Himmel geschwebt, und wir Kinder sind immer überall hingelaufen, um sie aufzufangen. Wir haben sie mit den Kleinen geteilt, und die Fallschirme haben wir aufgehoben und allerlei Spiele damit erfunden. Habt Ihr auch diesen Flieger gesehen? Ich glaube, er hat seine Paketchen über grossen Parks abgeworfen, in den Rehbergen und so.”

“Ja, wir hatten davon gehört, aber die hätten dem nicht erlaubt, so einfach in der Stadt abzuschmeissen, die Kinder wärn ja auch am Sonntag in den Verkehr reingelaufen.” “Ach ja, natürlich.”

“So, da haste also diese friedliche Vorkriegsgeschichte zum besten gegeben.”

“Ja, aber meiner Enkelin hab ich sie erzählt, die Eltern war’n zufällig dabei. Sie waren erstaunt. Ich weiss, es zählt eigentlich nicht. Ich rede mit ihnen nicht über den Krieg. Vielleicht ahnten sie, dass ich nicht gefragt werden wollte. Ersparen wir nicht unseren Kindern Konflikte wo wir irgend können? Meinst du sowas wie damals die Goebbelsrede im Sportpalast? Anfang ’43? ‘Wollt ihr den totalen Krieg?’ Meinst du, ich soll ihnen sowas mal erzählen? Ich sass ja da drin und hab gezittert …”

“Neeee, was denn, du warst auch dabei? Hab ich ja gar nicht gewusst. Was fuer nen Aufwand. Was fuer nen AUFWAND ! Die ganzen Uniformen, alle in Formation gesetzt, weisste noch? Unser ganzes Fähnlein war da hin beordert worden, ‘zum Dienst’. Waren da eigentlich auch ganz einfache Leute, so im Mantel? Kannste dich erinnern?”

“So richtige Familien, oder wie? Weiss ich gar nicht, hab keine gesehen, glaub nicht. Aber ich hab mich ja auch so aufgeregt über sein Gebrüll und sein Gesicht. Als er dann geschrien hat, ‘Wollt ihr den totalen Krieg?’ und die haben alle mit diesem, diesem ‘JAAAAAAAA!’ geantwortet, da bin ich in Tränen ausgebrochen und konnte mich nicht beruhigen. Ich glaube es war Kanada, die mit dabei war, und dir mir den Rücken massiert hat und mich und noch ein anderes Mädchen zum Ausgang geführt, und nach Hause gebracht hat. Du hast Kanada nie kennen gelernt. Sie sind dann weggezogen.”

“Ich weiss nicht wie ich damit umgegangen wäre. Ich meine, meinem Peter sowas aus dem Krieg zu erzählen. Wozu denn? Wieso die Kinder deprimieren?”

“Na, genau.”

“Peter weiss natürlich davon. Die Ereignisse sind ja immer wieder mal diskutiert worden, in den Medien, in der Schule wohl. Aber von mir weiss ers nicht.”

Da drehte sich der Schlüssel in Fritzes Wohnungstür, und Inge erschien auf der Schwelle.

Hätten sie Lust auf ein uriges Altberliner Essen? Aber ja, und sie nahmen ihre Mäntel und gingen hinunter in den Grosstadtabend.

Und die Krise sei inzwischen überstanden, alles in Ordnung, sagt Inge.