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22. April 1945, 2.30 Morgens
Axel

Anna träumt, sie hätte sich in eine riesige Bibliothek verirrt, mit eichenholzgetäfelten Wänden und Decken, und hohen Büchergestellen. Sie läuft herum und sucht nach etwas, an das sie sich nicht erinnern kann, als weit entfernt ein Telefon klingelt und klingelt. Da merkt sie erst, dass die Bibliothek keine Tür besitzt, obwohl sie überall nachsieht. Schliesslich fällt ihr an der Decke eine Entlüftungsklappe auf, und sie erklimmt entschlossen einige Gestelle, verstreut Kinderbücher in alle Richtungen, und quetscht sich durch.

Laute Stimmen im Büro wecken sie. Axel ist am Telefon und gibt Befehle an umstehende Jungen weiter. Lilly ist schon auf, hat Socken an und zieht eben einen Pullover über. Lotte rollt fluchend aus dem Bett, und Emma klettert mit fahlem Gesicht die Leiter herunter, “Es ist soweit!”

“Wir können sie nicht finden, sind weg!” schreit Christian in der Tür.

“Wo zum Teufel sind die Obergefreiten? Warum haben die sich nicht gemeldet. Was sollen bitte wir mit diesen-”

“Warum hört nicht wenigstens EINER AUSNAHMSWEISE ZU ! Sie sind WEG, wie der Leutnant und der Feldwebel — ich hab sogar in den Latrinen nachgesehen!”

“Ich wette, die ham das schon immer geplant,” sagt Gustav und spuckt auf den Boden. Christian lehnt an der Wand. Ede läuft auf und ab, dann füllt sich der Gemeinschaftsraum, und die Jungen sehen sich an. Henning sitzt auf dem Boden, das Kinn auf den Knien.

Axel dreht das Licht aus. Seine Taschenlampe beleuchtet die Gesichter der zuletzt Dazugekommenen, die nun kapieren.

“Ihr könnt machen was ihr wollt,” sagt Axel, “könnt auch abhauen, aber ich werde mein Versprechen halten. Ich habe einen Fahneneid geschworen und ich rücke in zehn Minuten aus, mein Bestes zu tun. Ihr wisst ja, Reserve-Panzerfäuste sind noch im Schuppen. Aber kein Licht, keinen Funken.” Draussen vernehmen sie Motorengeräusche in der Ferne.

Der Himmel über Berlin ist rot, wie so oft, diesmal vom Beschuss.

Die Mädel holen die Eisernen Rationen aus den offenen Kartons, während die Jungen ihre Räder an der Küchentür vorbeischieben, mit den Panzerfäusten an der Lenkstange, zu beiden Seiten des Vorderrades. Die meisten vermeiden Augenkontakt.

“Servus, Mädel,” sagt Toni, und sie nicken ihm zu. Emma streichelt seinen Arm.

Sie halten vorschriftsmässig Abstand auf dem Waldweg und sind bald in der Dunkelheit verschwunden.

“Also, Anna, ich muss schon sagen, hättest du nicht in schickerer Kluft dem Moment gerecht werden können? Mein Auge erspäht einen Uniformrock über Pyjamahosen, tsk, tsk.”

Es ist Motz, der zwei Panzerfäuste mit hat, nach der Pistole sucht, und Gefühlsäusserungen vorbeugen will.

“Motz.”

“Nein, wir-”

“Eure Rationen!”

“Ja klar, die können wer gebrauchen.”

“Wenn Axel sich doch bloss nicht am Telefon gemeldet hätte, wenn ers hätte klingeln lassen, oder rausgezogen…” sagt Anna später.

“Du meinst, wenn sie den Abmarschbefehl einfach nicht empfangen hätten,” sagt Lilly.

“Das ist Hochverrat, biste verrückt?” hatte Emma ausgerufen.

“Nein, Axel hatte schon recht. Sie konnten nirgends hin, kein sicherer Winkel für irgendeinen.”

“Vielleicht eine Handvoll aus dem Berliner Raum…”

“Nein, keine echte Zuflucht. Nur Hansi, gottlob.”

“Ja, gottlob, Hansi ist sicher.”

Aufbruch

Wie, wenn Motz nicht abgestiegen wäre, um auf Ede zu warten, dessen Kette mal wieder streikte als die anderen losfuhren?

Und Ulli? Der ein Stück den Weg entlang nochmal umdreht, um sie daran zu erinnern, dass hinter der Küche noch ein Reserverad steht, Hansis, für den Fall, dass sie die Kette im Dunkeln nicht wieder draufkriegen? Ausser, dass Hansi so klein ist, dass sie den Sattel ohne Werkzeug mindestens zehn Zentimeter höher hätten hieven müssen. Ulli kommt also zurück und bietet seine Hilfe an, Ulli, der nichtmal den Wasserhahn im Dunkeln findet. Aber Ede braucht niemanden, das geborene technische Genie repariert alles.

Und so ereignet es sich, dass diese drei nun doch, umarmt und geküsst, von den Mädeln verabschiedet werden, und fünf oder zehn Minuten nach Abrücken all der Anderen sich allein auf den Weg machen, Ede dadurch erkennbar, dass er an seiner freien Seite eine aus einem Handtuch gefertigte Schlinge mit Kommisbrot mit hat.

Die Erste Hilfe Taschen, so sorgfältig gepackt, sind im Büro vergessen worden.

Die Mädel gehen zurück in die Küche, waschen sich die Gesichter, holen wortlos ihre Rucksäcke aus der Baracke und machen sich auf den langen Weg über die Felder, nach Hause. Monika überrascht alle als sie erneut in Tränen ausbricht, und die Kameradinnen beim Abschied lange an sich drückt . Da stehen sie, in stummer Umarmung, und sie laufen lange rückwärts, winkend, bevor sie in verschiedenen Richtungen auseinander gehen.

Emma erinnert Lilly und Anna nochmal daran, dass sie am nächsten Morgen versuchen wollen, zum Noteinsatz in die Stadt zu kommen. Sie werden sich um zehn Uhr morgens bei Anna treffen.

Aber jetzt müssen sie erst schlafen. Nur schlafen.

“Ich muss einen Brief in den Kasten werfen,” sagt Anna und fühlt in der Tasche herum. “Habs Ede versprochen.”

Die Maschinengewehrgarbe klingt so nah, dass Lilly und Anna sich hinwerfen und den Rest der Strecke bis zur Unterführung auf allen vieren kriechen.

“Haben die auf uns geschossen?” fragt Anna.

“Nein, glaube ich nicht. Es war hinten im Wald,” sagt Lilly. “Ich habe solche Angst um sie, solche Angst.”

“Du, lass uns nicht”- sagt Anna und schluckt.

Anna läuft die menschenleere Strasse entlang. Der Mond ist hinter der Wolkenwand hervorgekommen und erleuchtet die Szene. An der Ecke Oranienburger Chaussee sieht sie eine Panzersperre in etwa 500m Entfernung, aber es sind keinerlei einzelne Soldaten zu erkennen. Hinter ihr weiter Maschinengewehrfeuer aus Richtung Wald, und dann eine Detonation, und noch eine, aber wenigstens ist die Artillerie für jetzt verstummt. Zu Hause angekommen, sieht sie gegenüber eine schmale Frau mit Schwesternhaube am Gartentor. Sie schiebt ihr Fahrrad und winkt Anna zu. Es ist die Hebamme.

“Es ist ein Junge, ein Prachtjunge,” ruft sie, “aber jetzt muss ich schleunigst nach Hause, zu meinen eigenen. Höchste Zeit,” und sie radelt davon.

Du lieber Gott, denkt Anna, was für eine fürchterliche Nacht geboren zu werden. Sollte ein Säugling nicht immer ein Triumph sein, ein Zeichen des Vertrauens auf die Zukunft? Des Guten im Menschen. Was hat diese junge Mutter für eine enorme Verantwortung in dieser Zeit. Zum Glück sind ihre Eltern noch jung und patent und werden ihr helfen.

Anna hat keinen Hausschlüssel aber Tatjana hört sie klopfen. Erst macht sie ein Geräusch hinter der Tür, um zu sehen wer draussen ist. Anna lässt den Rucksack zu Boden fallen und umfasst die zitternde Tatjana. Komm nach unten, deutet die nach der Treppe. Tatjana weiss, dass ihre Landsleute nah sind, sehr nah, und sie ist so zerrissen zwischen Hoffnung und Terror. Nicht nur, dass sie schon einmal erlebt hat, wie eine kämpfende Truppe ihr Heim überrannt hat, sie weiss besser als diese Familie, wie sehr die Frage von Uberleben oder Untergang dem Zufall unterworfen ist. Da ist keine Zeit für Gerechtigkeit im einzelnen, womöglich keine Chance, Unschuldige zu verschonen. Bei der kämpfenden Truppe ist Vormarsch das einzige Ziel, nicht Worte, Waffen sprechen da. Immerhin weiss sie, dass sie nun in ihrer eigenen Sprache reden wird, endlich, welch wunderbare, lang ersehnte Aussicht! Aber wie, über ihre Familiengeschichte? Aber sie können ja gar nichts wissen, nicht diese ersten Frontsoldaten. Sie werden davon ausgehen, dass sie gegen ihren Willen nach Deutschland deportiert wurde, und dabei muss sie bleiben. Aber sie wird hier bleiben, bei dieser Familie, bis Igor kommt und sie holt. Das haben sie verabredet. Nur, wie lang wird es dauern bis er durchkommt? Erst muss sein Stadtteil befreit sein. Wie lange kann sie warten? Was wird sie den Polit.- Offizieren sagen, die gleich nach der kämpfenden Front erscheinen, und die sie natürlich fragen werden, warum sie noch bei dieser Familie ausharrt? Muss sie sie nicht hassen? Und wie wenn ihr Freund nicht durchkommt, wenn er daran gehindert wird? An wen kann sie sich dann wenden? In die Ukraine zurückkehren, in das völlig zerstörte Dorf, in dem sie ihre Mutter zurücklassen musste? Sie hat so lange nichts von ihr gehört. Nein, sie will nicht dahin zurück. Was tun?