Lilly und ihre Kinder warteten geduldig, bis Anthony seine fröhlich brabbelnde Rede beendete und sie das Tischgebet sprechen konnten. Dann füllte Lilly die Suppe aus der dampfenden Terrine. Loris Augen wanderten von Mutter zu Anna zu Anthonys Teller, von dem er eifrig Nudeln und Gemüse löffelte und seinen Wecken kaute, aber das Hühnerfleisch an den Rand legte.
“Bei uns essen die Kinder, was ihnen vorgesetzt wird,” sagte Lilly nicht unfreundlich, indem sie Loris Teller nachfüllte. Anthony verstand nicht wovon die Rede war, und fischte sorgfältig noch weitere Hühnerstückchen beiseite.
“Sogar als Mammi einmal das falsche Glas erwischte und ein halbes Pfund Salz in den Kuchen gerührt hat, hat der Pfaffe drauf bestande, dass wir’s esse,”sagte Lori und beobachtete durch gespreizte Finger Annas Reaktion.
“Ist das wahr?” fragte die, und Lilly nickte.
“Ich weiss nicht, ob John mit derlei gediegener Loyalität aufwarten würde,” sagte Anna, und sie lächelten unsicher.
“Anthony isst kein Fleisch mehr, seit er im Frühjahr entdeckt hat, was es eigentlich ist,” erklärte Anna, “wir respektieren das.”
“Aber habt ihr mit dem Arzt darüber gesprochen?” fragte Lilly sehr besorgt.
“Ja, wir haben ihn gleich gefragt, und er war nicht allzu erfreut, aber als er hörte, was Anthony am liebsten isst, Weisskäse, Nüsse, Eier, Linsen und rohe Paprikaschoten, ach ja, und Oliven, da sagte er, es wäre in Ordnung, solange er nur eine reiche Auswahl an Nährwerten bekommt und genügend Milch.”
“Anna, du willst doch nicht etwa sagen, dass du Eurem Dreijährigen noch ‘ne Extrawurst kochst?” aber bevor Anna antworten konnte, ging die Tür auf und eine Frau aus der Kirchengemeinde stand mit verstörtem Gesicht auf der Schwelle. In der nächsten Minute hatte sich Lilly in die Pfarrfrau verwandelt, ein Cape um die Schulter gelegt und eine graue Segeltuchtasche geholt.
“Ein Glück, dass du hier bist, Anna, es ist eine Schwerkranke. Der Pudding ist im Kühlschrank. Du weisst, wo die Näpfe stehen, Lori. Du bist meine Grosse. Mammi ist bald wieder zurück.”
Zwei Stunden später fand Lilly sie alle miteinander im Badezimmer, Anthony, Lori und Tina in der Wanne, sich gegenseitig den Rücken schrubbend. Anna sass auf dem Toilettensitz, Baby Martin in einem Badetuch auf dem Schoss, bei der sechsten Runde von ‘So reiten die Damen, so reiten die Herren,’ und unter Begleitung von lautem Quietschen. Lilly übersah die Pfütze auf dem Boden, zog sich in die Küche zurück und kochte Tee.
Bevor die Kinder ihre warme Milch bekamen, zog Lori die Mutter ins Schlafzimmer und zeigte ihr die fabelhafte Stadt, die sie miteinander gebaut hatten, samt Park und echtem Gras, festgeklebt mit Anthonys Plastellin und einem Teich in Martins Babyschüssel. Lilly bewunderte jede Einzelheit, fragte wer was gebaut hatte, und sank schliesslich in die Fensterbank mit einem Topf sehr starken Tees, die Kinder im Bett.
Ihr Mann, der ‘Pfaffe’, war jetzt bei der sterbenden Frau, aber die Gemeindemitglieder kamen immer nach der Frau Pfarrer fragen wenn etwas anlag, hatten es gleich so gehalten, als Gunther vor sechs Jahren diese Pfarrstelle übernommen hatte. Es sei gar nicht ihre Ausbildung als Krankenschwester, meinte Lilly, sondern wohl ihre natürliche Neigung zur Altenfürsorge.
“Ja, deine Geduld, dein Mitgefühl, zusammen mit deiner patenten Art, zuzupacken. Die hattest du schon immer,” sagte Anna. “Ausserdem kannst du gut zuhören und bist eine schöne junge Frau mit einem Grübchen im Kinn, kann alles nicht schaden.” Sie küsste Lilly aufs Haar und goss ihr Tee nach.
So sassen sie und warteten auf den Pfaffe, ein Babyschnarcher kam aus dem Kinderzimmer, und dann schlug die Turmuhr elf, ein friedliches Zeugnis der Vergänglichkeit und zugleich tröstlich.
Lilly hat geklagt, dass sie mehr Kraft brauche. Sie könnte so viel mehr Gutes tun, wenn sie doch nur mehr Energie hätte. Sie haben dieses Thema in Briefen behandelt, und seit Annas Ankunft zweimal angesprochen, und es fällt ihr jetzt nichts mehr dazu ein. Darum versucht sie nun eine andere Taktik als Lilly Wein hinstellt.
“Könnte es sein, dass du dich dauernd übernimmst? Mit drei kleinen Kindern?”fragt Anna, “vielleicht solltest du etwas freundlicher mit deinen Nerven umgehen. Einer unserer Nachbarn hat sich scheiden lassen, weil seine Frau die Küchenmaschine angestellt hat, eben als Satchmo die ersten verführerischen Töne von ‘Summertime’ geblasen hat.”
“Wer ist Satchmo?”
“Louis Armstrong, und bitte nicht Thema wechseln.”
“Euer Nachbar ist ein Musiker?”
“Mathematikprofessor mit hohem Blutdruck.”
“Ich habe so ein Glück mit dem Pfaffe. Ich lasse die Küchenmaschine sogar laufen, wenn er eine neue Predigt einstudiert.”
“Und?”
“Nichts. Die Liebe geht durch den Magen. Du erinnerst dich.” Dann zieht Lilly die Augenbrauen hoch, streicht sich eine braune Locke aus der Stirn und sieht angespannt aus. Sie freut sich nicht auf die Aussicht, mit dem Pfaffe darüber zu diskutieren, ob es klug sei, einen Dreijährigen Vegetarier werden zu lassen. Aber als der Pfaffe endlich kommt und seine aufgewärmten Bratkartoffeln mit Wurst und grünen Bohnen verdrückt, will er über das junge Paar reden, er evangelisch, sie katholisch, die sich in der Woche davor im nahen Dorfteich ertränkt hatten. Sie waren von Mitgliedern beider Kirchengemeinden, Angehörigen und sogar Freunden solange bedrängt worden, die Verlobung zu lösen, bis sie schliesslich keinen anderen Ausweg wussten.
“Ist das vorstellbar in Kanada?” will er wissen. Anna erinnert ihn, dass sie ja erst seit drei Jahren dort lebt, aber sie hat noch nie dergleichen gehört. Sie meint, in Toronto wäre man ausser sich über eine derartige moderne Romeo und Julia Tragödie mit religiösen Vorzeichen. Sollte sie hier an ‘Little Blue and Little Yellow’ erinnern? Lieber nicht.
“Kanadier wollen faire Lösungen sehen. Die jungen Leute würden mit so etwas wohl nicht allein gelassen. Ich kann mir eine solche seelische Erpressung dort nicht vorstellen. Es fällt mir auch hier schon schwer, muss ich sagen. Aber in Kanada würden vernünftige Leute den Mund auftun. Ich hoffe es wenigstens.” “Du fühlst dich dort wohl, nicht?” fragt der Pfaffe.
“Ja. Ich habe zwar oft Heimweh, aber ansonsten fühle ich mich wohl. Doch,” sagt Anna.
Sie hat gepackt. In einer Stunde werden sie und Anthony im Zug sitzen. Eine hilfsbereite Nachbarin hat Lillys Kinder zum Spielplatz gebracht.
“Ich mache mir Sorgen über eure pädagogischen Ansichten,” sagt Lilly ernst. “Da kommen grössere Schwierigkeiten auf euch zu. Es ist nicht gut, Kinder bestimmen zu lassen. Sie sind zu jung für die Verantwortung, haben nicht genug Erfahrung die richtigen Entscheidungen zu treffen.”
“Naja, ich mute ihm nicht dauernd Entscheidungen zu. Aber ich höre hin, wenn er uns etwas mitteilen will, das ihm wichtig ist. Vor einigen Wochen waren wir zum Beispiel zu einem Mittagsbuffet ausgegangen. Anthony sass auf Johns Schultern. John und ich stellten unseren Teller zusammen, und dann haben wir Anthonys Teller beladen, während die ganze Auswahl vor ihm lag. Anthony hat sich gewehrt. Er war der einzige, dem die Freude des Selbstaussuchens verwehrt wurde. Als wir merkten, was wir da gemacht hatten, haben wir ihn selbst wählen lassen. Er hat es sehr gut gemacht.”
“Wirklich? Nahrhaftes Essen?”
“Jawohl, mit Saft dazu.”
Lilly kratzt sich hinterm Ohr.
“Überleg mal,” sagt Anna. “War das nicht damals eines der ganz wichtigen Themen? Eine Sache, die ich mir vorgenommen hatte, anders zu machen? Falls ich je Kinder bekäme, sollten sie eine Stimme haben. Wir würden richtig hinhören auf das, was sie zu sagen hätten, mit Respekt. Nicht nur weil es gerecht ist, sondern auch weil die Gedanken selbst der Kleinsten von Wert sind.”
“Das ist wohl wahr, aber dann sieht der Alltag doch ganz anders aus, oder nicht?” sagt Lilly.
“Schon, Lilly, aber wer ist für den Alltag zuständig? Haben wir nicht damit zu tun? Wir leben in einer Demokratie. Das ist ein wesentlicher Faktor meines Alltags. Wir treffen Entscheidungen, und John und ich wollen, dass Anthony uns dabei erlebt. Wir melden uns, wenn uns Dinge missfallen, und er weiss das schon. Wir wollen doch, dass er nachdenkt und eine echte Ahnung davon bekommt wer er ist. Ich meine dass er nicht Selbstrespekt, und Selbstvertrauen entwickeln kann, wenn wir ihm nicht deutlich Respekt zeigen. Und ich bin überzeugt, nur so wird er Respekt für seine Mitmenschen erlangen, dazu bereit sein. Weisst du, was ich meine?”
“Das ist alles richtig. Kinder haben keinen Respekt vor Erwachsenen, die an sie hinschreien, wie wir uns allzu gut erinnern. Ach, Anna, ich hoffe und bete, dass ihr da drüben blüht und gedeiht. Du klingst so tapfer, mein Mädchen und ich vermisse dich unendlich. Du hast dich überhaupt nicht verändert.”
“Sollten wir das etwa? Du doch auch nicht, Gott sei Dank.”
Sie umarmten sich lange, streichelten sich gegenseitig übers Haar. Anna hatte sich so auf diesen Besuch gefreut — und wie schön war es, Lilly und ihre Familie erlebt zu haben.