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Samstag, der 21. April 1945
Lilly und Axel

Der Beschuss war für heute eingestellt. Die Stille war an diesem klaren Frühlingsabend auf einmal schwer zu ertragen. Wann würde es wieder losgehen, wann die dumpfen Einschläge in der Ferne von Neuem zu hören sein? Ein Rauchverbot wurde erlassen, da die Jungen Munition und Panzerfäuste aus dem Schuppen holten.

Als Axel vorbeiging öffnete Lilly die Küchentür.

“Hast du nachher einen Moment Zeit?” “Ich komm vorbei,” sagte Axel.

Sie sassen in der Kuhle hinter der Küche, wo der strubblige wilde Busch im Frühlingsgrün stand. Axel blickte lange in den sternklaren Himmel.

“Ich würde gern wissen, ob sie je die Antworten finden,” sagte er.

“Die Antworten worauf?”

“Nun, die Fragen der Schöpfung, des Alls.” Lilly begrub das Gesicht in den Händen.

“Axel, ich weiss nicht, wie ich anfangen soll,” sagte sie und Axels Stirn legte sich in Falten.

“Ich will mit dir reden — richtig über dieses Geschehen, dieses Kriegsende reden,” aber Axel hob beide Hände.

“Bitte, lass es sein.”

“Nein, lass mich bitte ausreden. Wir, Anna und ich, meinen, dass diese ganze Anstrengung keinen Sinn mehr hat. Wir-”

“Lilly, lass uns heute nicht streiten. Lass uns einfach still hier sitzen und unsere Kräfte-”

“Schhhhh, Axel. Komm mit uns nach Hause. Wir können eine Menge von euch verstecken helfen. Anna hat einen Schuppen in einem Friedhof entdeckt, und meine Tante-”

“Bist du wahnsinnig? Wie willst du hundertsiebenunddreissig Jungen verschwinden lassen! Es wird nicht passieren, Lilly. Niemand wird mitgehen. Es ist zu spät, und erwartest du vielleicht, dass wir türmen wie die Erwachsenen? Na? Wenn ich das hier überlebe, wird es nicht als Deserteur sein.”

“Axel! Hitler ist am Ende. Es ist alles vorbei. Es muss doch Hoffnung auf eine Zukunft geben.”

“Darüber rede ich grade. Es wird nie wieder möglich sein, ein würdevolles Leben zu führen. Es ist verspielt worden. Die Verbrechen-”

“Das weiss ich, aber wir müssen unseren Zorn überwinden und das Gerede von Vergeltung lassen, und wir müssen ihnen verzeihen. Es war Krieg.”

“Du hörst mir gar nicht zu. Nicht die, wir. Die meisten Deutschen wissen noch nichts davon, aber unvorstellbare Verbrechen sind von unserer Seite begangen worden. Wir können nicht in Ehren überleben, weil Hitler das verhindert hat.”

Lilly presste die Hände gegen die Schläfen um ihr Zittern zu verbergen.

“Ich weiss nicht was du meinst, Axel, aber es ist auch gleich. Du bist siebzehn Jahre alt, Axel.”

“Ja, wie dir bekannt ist, seit letzter Woche.”

“Hast du Verbrechen begangen, oder einer dieser Jungen hier? Und hatten sie irgendetwas darüber zu bestimmen, was in diesem Krieg geschehen ist? Hat irgendeiner je nach deiner Meinung gefragt? Hast du wählen dürfen?”

“Lilly, hör mir doch zu. Es ist zu spät. Vielleicht gerade weil wir nichts gemacht haben, sind wir mitschuldig. Wer einem Ertrinkenden nicht irgendwie hilft — sieh mal, wäre der Krieg von uns gewonnen worden, hätten wir doch profitiert, oder? Es gibt keinen Ausweg. Glaub mir. Ich muss weg.”

Und dann stand er auf und ging davon.