Vom Turmzimmer des alten Pfarrhauses hat man einen herrlichen Blick über die Ebene tief unten. Weinreben so weit das Auge reicht. Lilly und Anna sitzen auf dem Sofa und geniessen den Sonnenuntergang wie einen golden gesponnenen Schleier.
Lillys drei Kinder liegen im Bett, haben sich klaglos getrollt, als die Turmuhr schlug. Annas dreijähriger Anthony jedoch, hellwach durch die sechsstündige Zeitverschiebung, holt glücklich ein Holzhaus nach dem anderen aus dem handbemalten Baukasten, einem Erbstück. Er baut an einem alten Städtchen, wie dem, das sie besuchen. Seine Füsschen, vorsorglich im Pyjama, strampeln vor Aufregung bei der Fertigstellung jeder weiteren Strasse, jedes Stücks vom Stadtwall.
Lillys goldener Landwein leuchtet in den Gläsern, ihre alte, gekachelte Küche glänzt, ihre Taschentücher sind gebügelt, und sie meint, dass Kinder prinzipiell um 8 Uhr im Bett zu liegen haben.
Anna erinnert sich an diese Welt, eine der gepflegten Ordnung, der guten Sitten, aber freut sich heute, dass ihr Sohn in Kanada aufwächst. Mit Dr.Spock, Dr. Denton’s, Dr. Seuss, und “Chez Helene” im Fernsehen. Beide Frauen sprechen freilich nicht darüber. Lilly hat “Little Blue and Little Yellow” kurz durchgeblättert und mit warmen Dankesworten fürs erste wieder beiseite gelegt.
Aber Lilly und Anna stimmen darin überein, dass es sich für Mütter von Kleinkindern gehört, Tränenausbrüche vor ihnen zu vermeiden, und so reibt sich Anna die Wangen mit einem Papiertaschentuch aus dem Reisepäckchen.
“Ich kann’s einfach nicht glauben, dass sie eine ganze Bevölkerung einsperren, einzäunen wie eine Herde Vieh. Wie ein Riesengefängnis. Haben sie nichts gelernt?”
John hatte bei seinem Anruf vor einer Stunde dringend davor gewarnt, nach Berlin zu fliegen. In Toronto war die Rede von möglichen Grenzgefechten zwischen den Westalliierten und den Sowjets. Eine massive Intervention sei nicht auszuschliessen. Es gab immerhin den Präzedenzfall von 1948, als die Sowjets die Versorgungswege zu Wasser und zu Land sperrten. Damals hatten die Westalliierten die Luftbrücke geschaffen, Flüge rund um die Uhr auf den drei Luftschneisen, die auf den kleinen Flughafen Tempelhof mündeten und über zwei Millionen Westberliner monatelang mit dem Nötigsten versorgten. Auf den Rückflügen kamen Kinder nach dem Westen. Foffie traf mit einem ‘Rosinenbomber’ in Hannover ein, von Mutter unter Tränen am Flughafen abgeliefert, wohl ahnend, dass sie ihn viele Jahre nicht wiedersehen sollte. Vater und die Geschwister waren überglücklich, ihn in die Arme zu schliessen, immer noch dünn und unterernährt.
Und nun baute die Regierung der DDR eine Mauer rund um ihre Grenzen, angeblich, um Feinde der Republik am Eindringen zu hindern, in Wirklichkeit, um die anhaltende ‘Republikflucht’ einzudämmen.
Amerikanische Panzer waren direkt an den Stacheldraht herangefahren, Auge in Auge mit den DDR- Grenzern. Schüsse wurden in die Luft gefeuert. Die aufgebrachten Westberliner fluchten auf die Grenzer, reichten Beleidigungen hinüber und forderten sie auf, doch zu desertieren. Und sie zerrten am Stacheldraht. Gerüchte gingen um, französische Soldaten hätten in ihrem Sektor Drahtrollen durchtrennt und die verzweifelten Menschen aus Ostberlin durchgelassen. Das stimmte nicht.
Die Welt verfolgte die Krise am Fernsehen. In ihrem westberliner Altenheim hatte Annas Mutter grosse Sorge, dass Tochter und Enkelkind etwas zustossen könnte, obwohl sie inständig hoffte, endlich Anthony kennen zu lernen. Es wurde beschlossen, sie würden die nächsten vierzehn Tage bei Vater in Westdeutschland bleiben und die Entwicklung abwarten.
“Ich verspreche Dir, dass wir nicht zu dem schrecklichen Zaun hinfahren,” hatte Anna John versichert, “wenn wir überhaupt hinfliegen.”
Um elf Uhr ist Anthony endlich in seinem Nest aus Federbetten eingeschlafen. Von Zeit zu Zeit nuckelt er hörbar am Daumen.
“Er erinnert mich an deinen kleinen Bruder in dem Alter, damals in Berlin,” sagt Lilly und Anna nickt, brav die Bausteine in den Kasten sortierend. Lilly hat Kerzen in einem schmiedeeisernen Leuchter angezündet. Sie schenkt Wein nach.
“Dieser kleine Bruder studiert im zweiten Semester in Heidelberg. Und hat eben einen Jazzkeller eröffnet. Er und seine Freundin. Er ist ein Lieber.”
“Du wolltest mir von Axel erzählen,” sagt Anna. “Hast du in letzter Zeit von ihm gehört?”
“Ja! Er ist mit einer Kommilitonin verlobt und sie wollen bald heiraten. Ist das nicht einfach wunderbar? Er scheint endlich ein heiles Leben zu finden — ausser der kaputten Lunge, versteht sich.”
“Ja, das ist grossartig. Du siehst erleichtert aus, Lilly.”
“Erleichtert? Ich weiss nicht. Ich bin nur so froh, dass er endlich in sein Leben hineinfindet, wie du und ich, verstehst du?”
“Ja, natürlich, ich bin auch glücklich darüber, aber-”
“Als er nach elf Jahren Gefangenschaft aus Sibirien zurückkam, haben mich die Eltern eingeladen. Er sollte nur erstmal vier Wochen auf die Beine kommen. Du weisst ja noch, dass sie mich durch’s Rote Kreuz gefunden hatten. Er wusste also schon, dass ich verheiratet bin, aber als ich mit Lori ankam — ich konnte nicht anders, ich stillte sie noch — da ist er total eingefallen. Fühlte sich von allem ausgeschlossen, war überzeugt, dass es keine Hoffnung für die Zukunft gab, und wir kein Recht haben, Kinder in diese Welt zu setzen.”
“Meinte er Atomkrieg? Darüber haben John und ich endlos geredet-”
“Nein, er sah einfach Lori und hatte sofort Tränen in den Augen. Sie würde mit dem Vermächtnis von Mördern aufwachsen und ihre Kinder auch noch. Da habe ich dann das grosse Heulen bekommen.” Sie verstummte.
“Oh Lilly, wie traurig. Das tut mir so leid!” sagte Anna und beugte sich vor.
“Weisst du eigentlich, dass wir uns nichtmal geküsst haben damals?”
“Wirklich? Aber ich glaub’s natürlich. Wir andern waren ja auch so keusch, sogar Monika, die doch so, so weit entwickelt war. Jedenfalls glaube ich nicht, dass sie mit jemandem näher - nicht, dass die Jungens nicht attraktiv gewesen wären — im Gegenteil. Aber weisst du noch, wie hundemüde wir alle immer waren? Wie kaputt? Aber zurück zu Axel: Habt ihr jetzt mal gesprochen? Hat er seine Meinung zur Zukunft geändert?”
“Ja, es klingt so, er ist optimistischer nach diesen sechs Jahren zu Hause. Seine Verlobte ist ein paar Jahre jünger. Sie klingt wie eine patente, zielbewusste, viel unkompliziertere Person.”
“Na Gott sei Dank.”
“Ja, ich bin auch dankbar.”
“Lilly? Du hast ausgesehen, als ob du von einer Art Bürde befreit wärst. Ist das richtig? Ist da was dran?”
“Ach weisst du, wir haben vergessen, wie es war. Es scheint doch heute hundert Jahre her zu sein. Damals”- Lilly hält ein.
“Manchmal lieg ich nachts wach, und ich erinnere mich genau daran, wie es war-” sagte Anna.
“Und?” fragt Lilly.
“Toni hat mich mal ein ‘defaitistisches Element’ genannt. Das werde ich nie vergessen, “ sagte Anna. “Weisst du noch, wie überglücklich wir waren, dass Hansi davongekommen ist, unser Maskottchen, unser Baby? Warum nur er? Da waren mindestens noch vier Vierzehnjährige unter den Flüchtlingen. Der Feldwebel wusste das. Ich meine heute, dass sie die enorme Verantwortung des Überlebens nicht geschafft haben. Weisst du was ich meine? Opfertod haben sie immer und immer wieder geprobt, aber die Aufgabe des Überlebens unter den Umständen?” sagte Anna.
“Zuviel der Zumutung? Weisst du noch, wie Tom den Selbstmordversuch gemacht hat, ganz am Ende?”
“Oh, nein, hatte ich ganz vergessen! Die Freundin, wie wars noch?”
“Sie bekam ein Kind von ‘nem anderen. Es war ein Gerücht, oder was.”
“Ja, das versteh ich. Das das zuviel war. Das ging nicht auch noch, oder? Hatten wir damals alle Verständnis für.”
“Der Sani, der Albert, oder wie er hiess, wollte ihn nach Hause schicken lassen, aber Tom machte nicht mit. Zuviel verlangt.”
“Auf Motz traf’s nicht zu. Dem passte die Rolle des Überlebenden ohne Mühe. Der wollte schon wie seine Eltern sein Die haben so bewusst gelebt, sowohl nüchtern als auch leidenschaftlich, klingt wie’n Gegensatz, so wie er seine Familie beschrieben hat. Die haben nie zugelassen, dass jemand ihre Überzeugung korrumpiert hat. Ich erinnere mich, er wollte einer besseren Gesellschaft auf die Beine helfen, hatte schon in Stolpe die ersten Schritte getan und erwartete, so zu leben. Ganz normal für ihn. Aber in seiner Familie haben sie eben viel miteinander geredet, so sah’s aus. Du weisst ja, dass ich ihn am Tage nach dem Einmarsch an der Chaussee getroffen hab, mit Ulli und-”
“Ja. Sagenhaft! Aber ich weiss nicht mehr - was waren deine Pläne? Erinnerst du dich an welche?” fragte Lilly.
“Nein. Wir hatten ja Erwachsenenrollen übernommen. Wir sprachen schonmal drüber, erinnerst du dich, waren in einem Ausnahmezustand, den wir nichtmal beim Namen nennen durften.”
“Ja und? Wir haben’s doch angenommen.”
“Ich will nur sagen, dass wir gross genug waren, stark genug, um zu tragen und zu befördern, Ausgebombte in die Bunker und zur Ersten Hilfe zu bringen, Brote zu schmieren. Säuglingsflaschen zu preparieren, Kinder zu waschen und so weiter. Es war gar kein normales Leben, das uns und die andern erwartete, nicht? Die Engländer nennen es, “muddling through from crisis to crisis,” — sich von Krise zu Krise durchzuwurschteln und -” “Das ist gut, eine passende Beschreibung,” lachte Lilly.
“Ja, die Briten haben ja eine ganze Menge solcher Blüten,” sagte Anna.
“Und,” sagte Lilly. “Von Krise zu Krise-”
“Naja, ganz kurz, mein Kopf war wie Kraut und Rüben, nichts war geordnet, und ich hatte nicht den Nerv, etwas so Subversives zu den Jungen zu sagen wie ‘hau doch ab, lauf weg,’ wo sie doch so entschlossen und, ja ehrenvoll eben, auf ihr Ende zugingen. Aber manchmal mein’ ich, wenn ich an die Flüchtlinge denke, Henning zum Beispiel, war’s eine Art Aufgeben, eine Lethargie, die sie überkommen hat?” Lilly schüttelte den Kopf.
“Du, ich hab noch mit niemandem darüber gesprochen, aber ich habe versucht, hab’ mit Axel versucht, zu reden.”
“Wirklich? Wann denn?”
“Lass mich überlegen. Ja, ungefähr zwölf Stunden bevor sie abgerückt sind. Ja, die beiden Gefreiten waren noch da.”