Draussen ist es still geworden. Die Mädel liegen auf ihren Betten.
Anna ist immer noch wütend über den Zwischenfall mit dem Fahrer mittags, der zum Abschied aus dem Fenster rief, “zwei Kugeln heb ich mir auf. Eine is für mich reserviert und die andere für’n geschändetes Mädchen.”
“Warum mit dem reden?” sagt Emma, “der ist immer schon ein Idiot gewesen.”
“Ja,” sagt Anna, “aber diesmal konnt’ ichs ihm nicht durchlassen. Bloss waren alle so schockiert!”
“Was hast du genau gesagt?” fragt Lilly.
“Lass mich mal überlegen. Ich hab gesagt, ‘wenn ich das bin, der Sie den Dienst erweisen wollen, fragen Sie bitte vorher, ob ich mich für ausreichend entwertet halte.” “Autsch,” sagt Walla.
“Siehste?” sagt Anna.
“Nein,” sagt Lotte, “ganz klarer Fall. Du hast die einzig passende Antwort auf die unmögliche Bemerkung gegeben. Wie kommt der dazu!”
“Wisst ihr, was ich grade gedacht habe,” sagt Lilly. “Keine Frau würde je sowas formuliert haben.”
“Warum fühle ich mich so schietig?” sagt Anna. Niemand antwortet sogleich. Dann hören sie Monika.
“Könnte es sein, dass es etwas damit zu tun hat, dass du das überdenken willst, das Überleben nach einer absoluten Entehrung? Wir hören ja immer wieder, dass es kein ehrenvolles Überleben nach einer Niederlage geben kann. Nur Sieg oder Tod. Keine Alternative. Du hast das in Frage gestellt.”
“Keine ehrenvolle Niederlage. Ja. JA! Es scheint mir so unmenschlich. Aber ich habe gar nicht drüber nachgedacht. Es ist mir einfach rausgerutscht. Viel zu viele unschuldige Menschen sind umgekommen, und dieser Pascha plant, sich zu drücken. Statt sich bereit zu halten, und beim Aufräumen dieser sagenhaften Schweinerei mitzuhelfen. Ja, ich bin ihm sogar böse, dass er sich selbst umbringen will.”
“Ich meinte ja nur, dass du in ein Wespennest gestochen hast,” sagt Walla.
“Mein grösstes Talent. Anna und ihre Heugabel.”
“Na, wer war denn alles so schockiert,” fragt Emma.
“Tja, Toni. Er hat Kartons mit reingetragen. Und der Sani. Der sah entnervt aus.”
“Na und? Es ist ihre Sache, sich mit deiner Meinung auseinanderzusetzen. Sie sind ja beinah erwachsen,” sagt Lotte.
Die Mädel liegen schweigend da. Sie wagen nicht, laut zu fragen, ob sie selbst im äussersten Notfall zu überleben gedenken. Das Tabu.
Drei Tage später wird ein russischer Arzt Monikas gesamte Familie in ihren Betten im Koma vorfinden, die Mutter dem Tode nah. Zyankali Kapseln, zu schwach oder womöglich falsch gelagert, haben nicht tödlich gewirkt. Alle überleben, ausser der Mutter. Anna erfährt diese Geschichte als sie neunundzwanzig Jahre später die äusserlich kaum veränderte, strahlende Monika im Frankfurter Flughafen wiedertrifft — Monika auf dem Weg nach Nepal mit Medikamenten für ein dortiges Krankenhaus, Anna auf dem Rückflug nach Toronto, beide Flüge verspätet.