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Ede

Doch ja. Anna sitzt über einen grünen, liniierten Schreibblock gebeugt am Tisch im Gemeinschaftsraum. Ede läuft, nach Worten suchend, rastlos hin und her, mitunter kaum hörbar beim Getöse der Granaten.

“Raus!” brüllt er Gustav an, der schleunigst wieder verschwindet.

“Mein Letzter Wille,” beginnt er zum dritten mal.

“Das habe ich,” sagt Anna.

“Ja. Genau. Wie geht’s weiter?”

“Ich glaube, wir sollten als nächstes die Namen, das Datum und den Ort angeben,” sagt Anna, und schreibt sie auf.

“Ansonsten sehe ich nicht ein, warum du nicht einfach reinschreiben kannst, was du willst. Schliesslich ist es-”

“Genau. Schliesslich ist es — sag mal, du wirst doch nicht anfangen, hier rumzuheulen, oder?” Ede rennt auf und ab.

“Natürlich nicht. Was denkste ‘n von mir!” sagt Anna. “Meinem Vater, wenn er zurückkehrt, hinterlasse ich mein Radio. Für meine Mutter ist die Karl May- Sammlung. Meine elektrische Eisenbahn soll mein jüngerer Bruder Okie haben. Können wir sowas sagen wie: aber erst, wenn er sechs ist?”

“Klar, wie wär’s mit: Im Alter von sechs Jahren bekommt mein Bruder Okie meine elektrische Eisenbahn. Oder vielleicht: zu seinem sechsten Geburtstag?”

“Gut. Meinen Plattenspieler und meine Plattensammlung schenke ich meiner Freundin Hedy. Muss ich ihren Nachnamen angeben? Ich kann den nicht buchstabieren.”

“Ich glaube nicht, dass es unbedingt nötig ist. Deine Eltern wissen, wer gemeint ist?”

“Ja, meine Mutter schon. Das nächste musste in ‘nen neuen Absatz schreiben, oder unterstreichen oder was.

IHR WISST ALLE, WIE ICH ZU EUCH STEHE. ICH WÜNSCHTE MIR NUR, DASS ICH MEHR HÄTTE TUN KÖNNEN.

Wart mal, streichs wieder aus. Nee, lass es drin.” Hier macht Ede eine Pause.

“Das ist alles. Ich weiss, du kriegst das besser hin als ich.”

“Ich werd’s sauber abschreiben, dann unterschreibst du mit einem Zeugen. Ich glaub, du brauchst einen Zeugen.”

“Gut und dann wirfst du es in ‘nen Briefkasten. Versprichste das?”

“Ehrenwort.” Und Ede schreibt seine Adresse in Druckbuchstaben auf einen Umschlag aus dem Büro.

“Ich war nie gut in Rechtschreibung. Das ist meine Schwäche. Nicht gut genug.”

“Versteh.” Anna beugt sich über die Papiere auf dem Tisch, und Ede macht an der Tür eine tiefe Verbeugung.

Der Letzte Abend

Im Büro herrscht reinstes Chaos. Bei dem andauernden Donnern der Geschütze kann man am Telefon nichts verstehen. Feldbett und Stuhl sind überhäuft mit Medikamenten und Verbandszeug, Tuben und Salben, Jodtinktur, Leukoplast, Klammern, Scheren, Alkohol und anderem. Die Kiste ist fast leer, aber der Sani sucht noch etwas und findet es, als Monika und Walla dazu kommen.

“Ihr Mädels packt bitte alles in diese beiden Rote -Kreuz -Taschen. Die Anleitung liegt dabei,” sagt der Sani.

Die Obergefreiten rauchen im Gemeinschaftsraum. Niemand darf im Moment die Baracken verlassen. Aufklärer sind ständig am Himmel. Sobald FLAK schiesst, sollen sie in den Unterstand, aber nichts rührt sich. Gestern abend wurde die Flagge ohne jede Zeremonie eingeholt und das wars.

Monika kommt mit einem Beutel Spritzen aus dem Büro.

“Es fehlt das ganze Morphium,” sagt sie.

“Ich weiss, ich hab’s eingeschlossen,” sagt der Sani. “Ich pack’s später dazu.”

“Dann müssen Sie die Taschen halb wieder auspacken. Das Morphium gehört in die Mitte,” sagt Monika freundlich. “Kommen Sie bitte mit?” Und sie geht gleich voran, aber bevor der Schreibtisch aufgeschlossen ist, klingelt das Telefon wieder, und die Mädel werden gebeten, draussen zu warten.

Lilly, Anna, Emma und Lotte haben die Spinde aufgemacht und stopfen ihre Sachen in die Rucksäcke. Als Monika und Walla dazukommen, hören alle das laute Bellen aus dem Büro.

“Die Wörter ‘Skandal’ und ‘Munition’ werden wiederholt in den Hörer gebrüllt. Die Wörter ‘Identitätsmarken’ und ‘ordnungsgemässe Ausweispapiere’ — nie eingetroffen — sind offenbar kein Thema mehr. Walla löst die Reiszwecken über ihrem Bett und nimmt die Zwillinge an sich.

FLAK ist plötzlich doch in Aktion getreten und widmet sich den russischen Aufklärern. Jedoch niemand läuft hinaus in den Graben. Als sie das Radio anstellen, hustet es zuerst und verstummt dann.

“Was ist mit Bernau und Weissensee?” fragt Lotte. “Wir konnten nicht umhin, mitzuhören. Was ist los?”

“Also gut. Der Iwan greift aus Ost-Nord-Ost an, aber sie kommen nicht über die Brücken. Die SS ist da steinhart.”

“Aha,” sagt Lotte, “und wie ist das dann mit unseren Jungens? Wer-?

“Die Verteidigungslinie läuft weit nördlich von hier, um Birkenwerder. Schwere Einheiten der Totenkopfdivision und Wehrmacht. Der Iwan kommt da nicht durch. Unsere Aufgabe ist es, die Ortschaften mit zu sichern, falls der eine oder andere Panzer doch-”

“Aha.”

“Obergefreiter Peters?” meldet sich Anna, “werden die Jungens darüber unterrichtet, genau unterrichtet?”

“Anna, es ist doch klar, dass niemand etwas ganz GENAU voraussagen kann.”

Sie sehen sich alle an. Wo war nur der Leutnant, der mit dem ‘unverbrüchlichen Vertrauen in die deutsche Führung’, insbesondere dann, wenn er keine Ahnung hatte?

“Der Obergefreite Peters und ich haben beschlossen, das Abendessen um eine Stunde vorzuverlegen,” sagt der Sani. Die Mädel nicken, energisch an ihren Platz zurückverwiesen, die tägliche Küchenwirtschaft.

Auch die Jungen waren in ihre Baracken verbannt. Die Suppe wird früh gefasst, aber der Raum ist still bei diesem letzten gemeinsamen Abendbrot, ausser dass Henning laut überlegt, wie es Hansi ergehen mag, und die Mädel ihm zunicken. Mag sein, dass es zu anstrengend ist, den Geschützdonner zu übertönen.

Sie räumen alles ab und bereiten die Ausgabe der letzten Rationen vor.