Samstag früh sind Einschläge weit vor 10.00 Uhr morgens zu hören, und sie stammen nicht vom Übungsschießen der FLAK, wie Tausende von Verwundeten und Toten zu spät entdecken. Die Sowjettruppen hatten die Aussenbezirke der Reichshauptstadt erreicht und feuerten ohne Unterbrechung. Alte Frontsoldaten, mit der authentischen Geräuschkulisse des Schlachtfeldes nur allzu vertraut, beeilen sich, ihre Familien und Nachbarn in die Luftschutzkeller zu scheuchen und Freunde und Verwandte in der Stadt zu alarmieren.
Es ist schwerer Artilleriebeschuss, der alle aufweckt, nicht die Pfeife des Feldwebels. Die Jungen drängen aus den Baracken, von der Aprilsonne geblendet an diesem wunderschönen Morgen.
“Der Feldwebel muss krank sein,” sagt Gustav, “der hat doch auch Ohren.” Lilly und Anna bemühen sich in der Küche um das Feuer.
“Das ist das letzte vom sozusagen trockenen Reisig,” sagt Anna, “nicht ein Fetzchen mehr. Was wir morgen machen, weiss der-”
“Hör mal hin,” sagt Lilly, “es wird egal sein. Hörst du auch, was ich höre?”
“Der Feldwebel wird-”
Der Obergefreite Peters steckt den Kopf zur Tür herein.
“Habt ihr den Feldwebel gesehen?”
“Heute noch nicht, warum? Was ist los?”
“Er ist nirgends zu finden,” sagt der Obergefreite. Die Mädel laufen hinaus, suchen Ulli.
“Der Feldwebel kommt nicht wieder, da bin ich sicher,” sagt der.
“Hast du ihn also gesehen?”
“Nein.”
“Ulli?”
“NEIN.”
Einen Moment später pfeift der Sani zum Antreten im Gemeinschaftsraum.
“Wer hat jetzt das Kommando?” will Toni wissen und poltert über die Schwelle.
“Ich denke, wir werden’s gleich erfahren,” sagt Axel. Anna und Lilly sind die Letzten. Der Obergefreite Peters kommt aus dem Büro mit einem langen Gesicht und Notizblättern in der Hand.
“Stillgestanden,” brüllt er, und sie stehen.
“Der Feldwebel hat sich heute beim Hauptquartier gemeldet. In seiner Abwesenheit haben der Obergefreite Albers und ich gemeinsam das Kommando, bis zur ordentlichen Abwicklung der uns gestellten Aufgaben.”
Ein Höllenlärm bricht los. Stühle fliegen gegen die Wand. Einhundertsiebenunddreissig Paar Füsse sind in Bewegung. Niemand denkt noch an Frühstücken. Der Sani findet die Pfeife und der Raum wird etwas ruhiger.
“Die Front nähert sich,” sagt er ernsten Gesichtes, “und ihr wisst ja alle, dass der Obergefreite Peters und ich Ostfrontkämpfer sind. Wir erwarten Marschbefehl innerhalb von 24 Stunden. Um 8.00 rücken wir aus, die Panzerfäuste aus den Schuppen holen. Vier Gruppen werden einen Teil nach Einbruch der Dunkelheit in die Panzergräben bringen.”
“Weitere Munition wird heute abend per Bahntransport erwartet,” sagt der Obergefreite Peters ebenso fest.
“Per Bahn? Wozu soll das denn gut sein?” fragt Toni.
“Die Schienen sind gleich da drüben. Siehste die Bäume da? Die Baracken? Da an der Böschung sind gleich die Schienen,” sagt Ulli. “Woher weisst du denn das? Wohnst du hier herum?” “Oh nein,” sagt Ulli und zuckt die Achseln.
Der Beschuss hatte für kurze Zeit ausgesetzt. Jetzt, da er von Neuem beginnt, klingen die Abschüsse viel näher, die Detonationen weit entfernt in der Innenstadt.
Um 11.45 Uhr kommt der Versorgungsdampfer ein letztes mal den Feldweg entlang, begrüsst von Lotte, Emma und Anna. Laut fluchend springen die Fahrer ab, rufen nach Trägern und laden die grossen Thermoskessel ab, Kartons mit dem Kommisbrot, Leberwurst, Eiserne Rationen und eine mit dem roten Kreuz markierte Kiste. Die Obergefreiten tragen sie persönlich ins Büro und kommen eben zurecht für die Abschiedsworte. Die Fahrer garantierten ihnen, sie hier nie wieder zu sehen.
Ein Tiefflieger stösst durch die Wolken, fliegt eine Runde, zieht wieder hoch, von FLAK keine Spur.
“Gustav, Ulli, ihr beiden kommt hier herein, Brot schneiden,” erklärt Lotte.
“Bis heute nachmittag müssen wir hundertundvierzig Doppeldecker schmieren. Sonst noch jemand da?”