20
Am Abend

An diesem Abend rollen sie die Verdunkelung hoch und lassen die frische Luft herein. Die Luft ist lau aber abends wird es feucht. Es gibt kein Reisig mehr um den angekränkelten Bullerofen auch nur für kurze Augenblicke anzuzünden.

“Vielleicht seid ihr ja anderer Meinung, aber ich sage, wir suchen dem Leutnant sein Tagebuch, seine Bibel und die feinen schwarzpolierten Stiefel und verbrennen die. Der Scheisskerl kommt doch nicht wieder. Ich wette, der hat sich verdrückt,” sagt Ede.

“Du spinnst ja. Meinste wirklich? Wenn der erwischt wird -”

“Ach, der ist doch sicher zu diesem Verhör gefahren, wisst ihr nicht mehr? Hansis Verletzung,” sagt Gustav.

“Wenn se den schassen, wird’s unschön. Der Fahrer hat erzählt, dass sie in der Stadt reihenweise Leute an die Laternenpfähle gehängt haben, mit som Schild um den Hals.

Ich war zu feige, mein Vaterland zu verteidigen.

“Ja, so ähnlich. Ein neuer Sport,” sagt Ede.

“Das ist ja entsetzlich,” sagt Lilly und verdeckt die Augen.

“Das ist wirklich das Ende. Schlimmer wird’s nicht mehr,” sagt Anna.

“Wenn Axel hier wäre, würde er das Klavier als Brennholz anbieten.” Das ist Christian, langsam, müde.

“Ich bin ja hier, und ich dachte gerade, wie wärs mit etwas Musik?”

Axel ist hereingekommen, hat sein frisch gespültes Kochgeschirr abgesetzt, wischt den Metallkanister ab, der ihnen als Klavierhocker dient, reibt die Hände gegeneinander und spielt. Diesmal sind es Schlager, die sie alle kennen und sie singen so gut sie eben können mit. Lilly hat eine wunderschöne Altstimme, und auf einmal singt sie zu Axels Begleitung die romantische Ballade, “Auf der Brücke Thule-du gehn die Mädchen ab und zu…” Und endet mit der Feststellung, “nichts ist für die Ewigkeit,” das alles in moll, und es stammt aus einem neuen, beliebten Film, UNTER DEN BRÜCKEN. Sie alle bemerken Lillys schöne Hand auf Axels Schulter, aber niemand sagt etwas.

Die Mädel holen Brot herüber, das die Witwe geschickt hat, und nun summen sie mit vollem Mund. Und schliesslich findet doch jemand Brennbares, nicht hundertprozentig geeignet, und es riecht auch, aber der Raum wird nun fast gemütlich. Aneinandergelehnt sitzen sie in der Dämmerung am Boden und krümeln alles voll.

Dann erzählt einer einen Witz.

“Ein russischer, ein amerikanischer, französischer und englischer Soldat fliegen zusammen im Flugzeug….” Und sie lachen und lachen.

Dann beginnt Motz, “Julius Cäsar, Friedrich der Grosse und Napoleon unterhalten sich. Cäsar sagt, “wenn ich ja nur die Panzer gehabt hätte, da hätte ich ganz Germania erobert.” Und Friedrich sagt, “ und mit den Flugzeugen hätte ich ganz Europa besiegt.” Napoleon sagt, “…und wenn ich doch bloss den Goebbels gehabt hätte, dann würde die ganze Welt heute noch glauben, ICH hätte die Schlacht von Waterloo gewonnen.…”

“Meint ihr dass es stimmt, dass nichts für die Ewigkeit ist?” sagt Christian nach einer langen Pause.

“Natürlich stimmt das nicht,” sagt Ulli. “Denk doch mal an die Dichtung. Die ist unsterblich.” “Zum Beispiel Ringelnatz,” sagt Ede.

“Was ist Ringelnatz?” will Henning wissen.

“Oh Ulli,” sagt Anna dazwischen, “das ist auch wahr. Die alten Griechen zum Beispiel und die Römer. Aber ich hatte grade an die Meere gedacht.”

“Ede hat gewitzelt, Henning,” sagt Axel. “aber ich würde vorschlagen, dass die Menschheit ewig währt, obwohl ich mich im Augenblick nicht darüber freuen kann, so wie wir die erste Hälfte des Jahrhunderts zu Matsch gemacht haben.”

“Ich weiss nur, dass die Berge ewig sind,” meldet sich Toni. “Für mich sind sie ein Symbol des Ewigen, Majestätischen, und des Glaubens.”

“Na Gottseidank, er schwelgt wieder,” sagt Ede, “spricht vor.”

“Und wie ist es mit Feuer?” sagt Motz, “mit der einzigen Ausnahme von unserem hier. Es ist beinah aus. Könnte jemand einen überflüssigen Vogelfutterkasten beitragen, Liebesbriefe, Unterhosen? Brennt alles.”

“Wenn der Klavierspieler Feierabend macht, geh ich ins Bett,” sagt Ede.

“Ich brauche meinen Schönheitsschlaf. Ich will sensationell aussehen, wenn sie mich auflesen.” Aber er bleibt.

“Meine Mutter glaubt, dass manche Menschen ihre Aufgabe auf der Erde in ganz kurzer Zeit erfüllen, so in ein paar Jahren, oder sogar paar Monaten, und dann gehn sie wieder,” sagt Christian.

“Was meinst du mit ‘Aufgabe’?” fragt Motz. “Wir kommen ja nicht mit einer Arbeitsliste auf dem Bauch zur Welt.”

“Aber meinst du nicht, dass wir aus einem bestimmten Grund hier sind?

Ich bin nicht religiös oder was, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass dies alles, das Weltall, aus Versehen entstanden ist, aus Zufall,” sagt Ulli, “ohne Absicht.”

“Naja, die Idee vom Urknall, die kommt mir schon eher wie’n Unfall vor,” sagt Emma.

“Andererseits,” sagt Ede, “wars ja möglicherweise Kegelabend im Himmel und unser Herrgott hat wieder verloren…”

“Du hast was gegen die Wunder der Natur?” sagt Toni.

“Diese Welt hängt mir zum Halse raus,” sagt Ede, und jetzt geht er, begleitet von einer ganzen Entourage.

Zuerst hatte niemand den Radau draussen gehört, aber als Anna endlich die Tür aufmacht, ist fast unmöglich zu erkennen, wer wen bekämpft. Wie eine Teilansicht einer Laokoongruppe. Aber die Flüche, die Beleidigungen, die die Faustschläge begleiten, sind so grotesk, dass die Mädel zurückweichen, um nicht einen Stiefel an den Kopf zu bekommen. Axel, Motz und Ulli stehen gebannt in der offenen Tür, versuchen, die Lage zu erkennen, als der Feldwebel mit lautem Bellen heransaust und sich entschlossen in das Bündel von Armen, Beinen und Körpern wirft, Toni beim Kragen erwischt und Tom rückwärts stolpert, sich die blutige Nase wischt, mit einem Seitenblick auf Ede. Dieser wird eben, immer noch fluchend, von Rainer und Emma in Richtung Splittergraben gedrängt.

“Das hast halt davon, wenn du mein Vaterland beleidigst!” ruft Toni über die Schulter, “und du kannst gleich noch mehr abkriegen,” welche Worte Ede wiederum aus dem Griff der Friedensstifter und direkt in die Arme des Feldwebels treiben.

Als der Matsch schliesslich überall abgekratzt ist, wird allen klar, dass man Toni und Ede unmöglich im Krieg auf derselben Seite lassen kann. Ulli bekommt den Auftrag, Toni im Schlafraum ihrer Baracke zu bewachen, eine Ehre, die ihm eindeutig gegen den Strich geht. Und Motz soll Ede in Baracke I festnageln, indem dass die beiden sich schon seit Kindergartentagen kennen. Motz hatte wissen lassen, dass ihre Mütter als Mädel gemeinsam Parteischulungsabende besucht hatten (die kommunistische Partei, wohlgemerkt, und sie noch heute Mitgliedskarten besitzen.) Dies sei ein gewisses Problem in ihrer Familie, weil sein Vater Mitglied der früheren Sozialdemokraten ist, und er, Motz, in der Hitlerjugend, ein Riesenstreitobjekt gegenüber beiden Eltern und dem Rest der Einwohner ihres Wohnblocks, inklusive der Hinterhöfe, aber vor allem der Schwester, die der Meinung ist, Politik verderbe den Charakter.

Als diese Neuigkeit eines Nachts während eines der Luftangriffe zutage kommt, sind die Mädel sprachlos vor Staunen, dass Erwachsene heutzutage noch Mitglieder politischer Parteien längst vergangener Zeiten sein können und sich über Fragen streiten, die schlicht überholt seien.

Motz bemerkte mit der Toleranz der Hochgewachsenen, dass hier eine gewisse Informationslücke herrsche.

“Eine Frage der Vergangenheit ist es nicht,” sagt er, “mehr eine der Zukunft. Sie werkeln dran, während wir hier reden, würde ich wetten.”

Und dann, “Ede bleib sitzen oder du kriegst die Hucke voll.”

Damit ist die Sache erledigt. Motz ist grösser, wenn auch nur um ein paar Zentimeter. “Lass mich bloss in Ruhe,” sagt Ede vergrämt, “oder ich sage allen, wie du wirklich heisst.” So stellen sich Motz und Anna draussen vor die Barackentür der Berliner.

“Ihr zwei zankt euch so oft.”

“Natürlich. Wir sind doch beste Kumpels,” sagt Motz.

“Kann ich dich mal was fragen?” sagt Anna. “Ich glaube ich weiss so ziemlich, was Kommunismus bedeutet, aber was war eigentlich das Hauptziel bei den Sozialdemokraten? Was wollten denn die?”

“Naja, einige Grundprinzipien haben die schon mit den Kommies gemeinsam,” sagt Motz, “so die gleichen Rechte für die Arbeiterklasse aller Länder der Welt…”

“Na wir etwa nicht?” sagt Anna, “theoretisch, meine ich, in Zukunft?”

“Aber wo. Verdammt nein. Wir sind eine national-sozialistische deutsche Arbeiterpartei. Denk mal genau über den Namen nach. Das Interesse endet an der Grenze. Denen ist das scheissegal wie es den Arbeitern in Polen oder Afrika geht.”

“Ach so. Ich verstehe, ja. In letzter Zeit habe ich natürlich schon manchmal drüber nachdenken müssen, ob sich die Regierung eigentlich für ihre eigene Bevölkerung interessiert. Klingt schrecklich, ich weiss ja,” sagt Anna.

“Na, weil wirs mit einem Tyrannen zu tun haben, das ist es doch, einem Tyrannen der schon seit geraumer Zeit nicht alle Tassen im Schrank hat. Seit SEHR geraumer Zeit. Ein vegetarischer, anti-alkoholischer, nicht-rauchender Tyrann. Genau! Wo waren wir? Ach ja, also die Sozialdemokraten haben die ganze Welt im Visier mit Menschenrechten und so, und das Wort ‘Demokratie’ —”

“Ich weiss, was Demokratie bedeutet. Das gefällt mir sehr. Die Weimarer Republik war ja eine, nicht? Neunundzwanzig Parteien, haben meine Eltern gesagt. Aber ich wollte dich nicht unterbrechen, entschuldige,” sagt Anna.

“Ich denke immer, die Leute waren einfach zu sehr mit ihrem eigenen Kram beschaeftigt, der kaputten Wirtschaft, der Inflation —”

“Ach ja, meine Mutter hat uns mal geschildert wie das war, zweimal taeglich bezahlt zu werden. Mittags um zwoelf rannten sie schnell zum Milchgeschaeft und kauften ein halbes Pfund Butter weil sie nach der Arbeit nur noch ‘ne Flasche Milch zu dem Preis bekommen haetten.”

“Genau und Loesungen waren nirgends in Sicht.”

“Ja, aber Motz, die anderen Parteien hatten doch auch keine Geldsaecke im Keller. Das Land war doch bankrott nach dem Weltkrieg - wieso denn ausgerechnet die NSDAP? Wieso hat er diese eine Wahl geschafft? Meine Eltern und Grosseltern waren Liberale.”

“Also gut, Anna, so ist das passiert: Mein Alter sagt, dass der Mistkerl mit nur 37% der Wahlstimmen gewonnen hat weil die anderen 63%, die Opposition, in achtzehn Parteien zersplittert waren! Wahnsinn, aber so war das Wahlsystem.”

“Motz, ich hatte keine Ahnung, hab auch nie so genaue Fragen gestellt, aber sag mal, achtzehn verschiedene Theorien? Wie konnten die denn gewinnen?”

“Tja, da war zum Beispiel eine christliche Partei, ‘Zentrum’ und …”

“Licht aus! Sofort jetzt! Ab nach Kassel,” ruft der Feldwebel und deutet mit dem Daumen hinter sich zu Annas Baracke. Und Anna dreht sich wütend um und stampft zum Gemeinschaftsraum zurück.

“Wir sehen uns ja in zwei Stunden,” ruft Motz hinter ihr her.

Er geht hinein, setzt sich auf seine Koje und zieht Jacke und Schuhe aus.

Die andern sind wach, angespannt, Tom und Christian flüstern.

“Ich bin so nervös. Kann nicht mal jemand ‘nen Schwank aus seiner Jugend zum besten geben?” sagt Ede.

“Was denn, ne Gutenachtgeschichte?” sagt Gustav und schüttelt den Kopf.

“Bin ich dran?” sagt Motz, als keiner antwortet.

“Naja. Ein ganz kurzer aber nur. Vor einiger Zeit steh ich in der rappelvollen U-Bahn und da bin ich doch rückwärts gestolpert und trample son kleenen Männeken hinter mir voll auf die Zehen,” sagt Motz, “was sollt ich machen? Ich musste ihm eine latschen.” Als keiner reagiert, meldet sich Ede zu Wort.

“Dass ich nicht laut wiehernd lache! Du hast ihn praktisch auf Händen auf den Bahnsteig rausgetragen, hast seinen kleinen zarten Fuss untersucht und - du bist ein Teddybär, lieber Mann, und als dein Kumpel bin ich verpflichtet, die peinliche Wahrheit hier auszusprechen.” Motz hält die Hand hoch, aber diesmal bekommt er nicht das letzte Wort.

Im Schlafraum der Mädel steht Lotte in der Tür, ohne Jacke und Stiefel, legt mit tragischer Gebärde die Hand an die Stirn.

“Ich kann es nun nicht mehr —”

“Heil Hitler!” ruft Emma emphatisch, nur halb im Scherz, und so schlafen sie ein.