Hansi ist fiebrig und mit schlimmen Schmerzen aufgewacht. Axel öffnet die Augen - es ist sechs Uhr -und bringt ihn zum Sani. Der sucht die Telefonnummer der Klinik in der Nachbarschaft heraus, und die zwei gehen zu Fuss los zum Arzt an diesem kühlen sonnigen Morgen.
“Obergefreiter,” sagt der schläfrige Arzt und hopst hinüber zu seiner Krücke, “ich hätte diesen Jungen zur Weiterbehandlung sehen müssen. Die Wunde muss beobachtet werden. Ich kann den Patienten diesmal nicht wieder aus den Augen lassen. Soll ich’s gleich beim Hauptquartier melden?”
Der Obergefreite Albers ist sehr erleichtert bei dem Gedanken, diese Verantwortung los zu sein und übergibt die nötigen Informationen.
Mit der Krücke spielend meldet sich der Arzt als Major H., erfragt als erstes Namen und Rang der Stimme an der Leitung und teilt ihr ohne Umschweife mit, dass er einen minderjährigen Verwundeten von der nahen Volkssturmeinheit in Behandlung habe, und ihn morgen oder übermorgen dem nächsten Feldlazarett überstellen würde. Dann knallt er den Hörer auf. Hansi erhält ein Krankenhemd und wird in den Behandlungsraum geführt. An der Tür dreht er sich um und winkt mit der guten Hand und einem erleichterten Lächeln dem Sani zu.
“Viel Glück, Junge,” ruft der und geht.
“Siehste,” meint Motz, “Glück im Unglück. Für den Kleenen ist der Krieg vorbei. Prima.” Der Feldwebel sucht Ulli und ist entrüstet, ihn noch im Bett zu finden.
“Wach auf, Menschenskind. Ein Glück, dass der nicht Wache schiebt. Der würde sogar mitten beim Staffellauf einpennen.” Ulli erscheint mit dunklen Augenrändern, wie schon oft, und zieht seine Socken an.
“Frühstück ist vorbei,” ruft der Feldwebel wütend. “Antreten.”
Sie sollen stehend im Gemeinschaftsraum die Goebbelsrede zum Führergeburtstag anhören.
“Ruhe!” brüllt der Feldwebel.
“Heute ist mehr zu sagen als ein Glückwunsch,” vernimmt man die zu wohlbekannte Stimme des Propagandaministers.
“Man sollte es nicht für möglich halten,” ruft einer aus der hintersten Reihe.
“Ruhe!” schreit der Feldwebel wieder. Axel wendet sich zur Tür, aber der Feldwebel vertritt ihm den Weg.
“Wir sollen hier stehen und die Rede anhören. Respekt zeigen.”
“Nehmen sie’s nicht persönlich,” flüstert Axel ernst, “ich habe meinen Fahneneid geleistet, den ich sehr ernst nehme, aber respekt für dieses, dieses - das geht zu weit.” Er schiebt sich am Feldwebel vorbei aus der Tür. Der macht keine Anstalten ihn aufzuhalten. Er ist überhaupt heute nicht wiederzuerkennen. Und es wird im Laufe des Tages klar, dass niemand weiss wann der Leutnant zurückerwartet wird. Der Feldwebel wiederholt mehrfach, sie würden vom Hauptquartier hören. Aber der Leutnant ist offenbar mit dem Kübelwagen unterwegs. Auf und davon. Getürmt.
Während Goebbels weiter redet über die jetzigen schweren Unstimmigkeiten zwischen den Alliierten, von ihrem Verrat an der gemeinsamen Sache, stehen die Jungen stumm in Gedanken, unter der Wirkung die mitunter ein Requiem auf zunächst aufmerksam lauschende Zuhörer hat. Als das Radio endlich abgestellt ist, schieben sich einige der Jungen hinter dem Feldwebel und dem Obergefreiten Peters hinaus ins Freie. Es wurde ein bedrückender Tag. Die Panzergräben vollendet, radeln sie nicht mehr den täglichen Weg durch den Wald.
Beim Abendessen im Gemeinschaftsraum hat eine winzige Spinne, nur wenige Millimeter lang, die Gelegenheit ergriffen, ein feines Seidenband über Ullis Kaffeetasse zu spannen.
“Guckt euch das mal an,” sagt Ulli, vorsichtig die Tasse ins Licht schiebend.
“Ich möchte mal wissen, was dieses winzige Geschöpf da zu fangen gedenkt.”
“Na, Göring,” sagt Ede. “Klarer Fall. Es hätte bis zum Ende aller Zeiten zu fressen gehabt. Warum arbeiten, wenn man schlau sein kann?”
“Es weiss nur, dass es immer wieder spinnen muss.”
“Nun bewundern wir mal wieder den tierischen Instinkt,” meint Motz grinsend. “Nein,” sagt Ulli, “ich dachte, einfach das Leben.”
“Ein reines Wunder, dass er noch nicht erwischt worden ist,” flüstert Anna.
“Wobei,” fragt Lilly.
“Nachts loszulaufen,” sagt Anna.
“Wie meinst du?”
“Nein, ich hätte dir’s schon früher gesagt, aber —”
“Glaubst du, dass er ein Versteck hat, einen Plan?”
“Schön wärs ja, aber es handelt sich schliesslich um Ulli.”
“Was können wir machen mit ihm. Reden?”
“Dann bringt er uns wieder ein Gedicht, ein erstaunliches, wunderbares Gedicht,” sagt Anna.
“Er las neulich Rilkes CORNET. Würdest du einen Gedichtband retten, wenn du ausgebombt wirst?”
“Nein, ich würde mein rotes Akkordeon nehmen, das mir mein Vater geschenkt hat als ich mein Aufnahmeexamen für die Oberschule bestanden hatte. Und du?” fragt Anna.
“Ich könnte mir denken, dass ich unsere Bibel eingepackt hätte,” sagt Lilly.
Es wurde ein bedrückender Tag. Die Panzergräben vollendet, radeln sie nicht mehr den täglichen Weg durch den Wald.
Am 20.4. stand im Völkischen Beobachter, am nächsten Tag, Samstag, würde die FLAK ein Übungsschiessen abhalten, die Bevölkerung möge sich nicht unnötig über die Explosionen zwischen zehn Uhr morgens und vier Uhr nachmittags Sorgen machen.
An diesem Tag wird in Berlin ein letztes Kammerkonzert gegeben. Und es ist auch der letzte Tag der alliierten Bombenangriffe. Die Sirenen bleiben stumm, und es spielt sich nicht allzu viel ab.