Am Morgen nähert sich eine grosse dunkle Gestalt per Fahrrad, als die Mädel aus der Küche kommen. Auf dem Korb vor der Lenkstange und auf dem Gepäckträger hat sie zwei grosse Bündel mit Kordel festgezurrt. Lottes Mutter tut so als sei dies ihre Alltagsbeschäftigung.
Ihre prächtigen, strubbligen Locken hat sie lose nach oben gebunden, (so bemerkt man nicht, dass sie ungewaschen sind). Sie hat etwas mehr Tusche unter dem linken als dem rechten Auge und trägt alte Tennisschuhe.
“Sehr gute Anleitung, Lotte. Ich hab’s in unter einer dreiviertel Stunde gemacht,” sagt sie zur Begrüssung.
“Gut. Na zeig mal her was du da hast,” sagt Lotte.
“Weniger als ich gehofft hatte, aber immerhin elf Mützen, sieben Uniformjacken, ein paar kleine drunter, fünfzehn Gürtel mit Koppel, ‘ne Menge Halstücher, aber nur vier oder fünf lange Hosen, und drei paar Stiefel.”
“Fantastisch, fabelhaft, Frau Schneider,” sagt Lilly und reicht ihr die Hand.
“Ich bin Lilly, vielen Dank. Das ist Anna, Emma, Waltraud, und wo ist denn Monika?”
“Na irgendwo,” sagt Lotte, “lass uns diese Sachen reinbringen.” Als der Feldwebel kapiert was vorgeht, glättet sich seine sonst stets gerunzelte Stirn, und Lotte denkt, “Wenn er meine Mutter umarmt, erstarre ich zur Salzsäule,” aber nichts dergleichen geschieht, er lächelt nur etwas ungeschickt diese unerwartete Spenderin an, eine Gestalt wie von der staubigen Kulisse des ROSENKAVALIERS in Brechts MUTTER COURAGE verwandelt, und er ergreift mit beiden Händen ihre Rechte.
“Das ist einfach die beste, beste Tat, Frau-”
“Schneider,” sagt Lotte und stellt mit verschränkten Armen den Feldwebel vor. Es folgt eine Pause.
“Oh,” sagt Lottes Mutter dann, “Martha hat mir diese Tüte mit Puderzucker dazugelegt. Ist das nicht wahnsinnig komisch? Ich kann nichts damit anfangen, also hier.” “Jaja,” sagt Lotte leise, aber sie nimmt den Zucker in Verwahrung.
“Ich danke ihnen nochmals,” sagt Lilly zu Frau Schneider, die einen Stuhl abgelehnt hat, “danke für alles. Das ist so ermutigend. Ein Wunder.”
“Nein, nein. Mein Mann und ich haben nur ein paar Freunde angerufen und die Nachbarschaft abgeklappert. Heutzutage geben die Leute ausgewachsene Kindersachen weg, auch wenn sie einen Sohn verloren haben. Aber ich muss mich auf den Weg machen. Möchte möglichst nicht unterwegs sein, wenn unsere Vettern aus Amerika zu Besuch kommen.” Sie deutet mit einer eleganten Hand gen Himmel. Dann fasst sie ihre Tochter bei der Schulter, aber es besteht kein Grund für die Umstehenden, sich taktvoll abzuwenden, denn sie sagt nur, “Halt dich gut, Lotte,” und ist schon auf und davon. Die sieht ihr mit einem zufriedenen Lächeln nach.
Die Bürotür steht offen. Jemand rennt rein und nimmt den Hörer ab, ruft nach Tom. Er ist nirgends zu sehen. Christian geht schliesslich eine Nachricht für ihn aufschreiben. Nach wenigen Worten legt er den Hörer hin und schliesst die Tür. Als er herauskommt, ist Tom gerade gefunden worden und steht jetzt vor seinem besten Freund.
“Wer wars? Was gibts?” will er wissen.
“Lass uns mal rausgehen, frische Luft schnappen,” sagt Christian, ohne ihn anzusehen.
Hinter dem Küchenschuppen bleiben sie stehen. Tom greift nach Christians Arm.
“Was ist los?” hört Lotte. “Warum kuckst du mich so an?”
“Tom,” sagt Christan mit schwankender Stimme, “du wirst Vater. Deshalb hast du nichts von ihr gehört. Sie -”
“Moment, Moment, alter Freund.” Das ist Toms Stimme. “ICH WERDE NICHT VATER. Was immer hier los ist, was das auch bedeuten soll, ICH WERDE NICHT VATER. Amelie und ich, wir haben nie -es kann nicht- wir haben uns nur geküsst. Ich dachte du wüsstest das! UND DESHALB KANN SIE AUCH NICHT SCHWANGER SEIN. Soll das ein Witz sein oder was? Warum erzählt dir Amelie solchen Stuss?”
“Es war ja garnicht Amelie am Telefon,” sagt Christian still, “es war doch meine Schwester. Sie meint, sie ist sich ziemlich sicher, dass -”
“Wie bitte? Sie weiss es nicht mal genau? Hat Amelie ihr aufgetragen, mir die freudige Nachricht zu übermitteln oder was?” Toms Stimme ist laut und sarkastisch, und Lotte kann es nicht ertragen, mehr mit anzuhören. Sie schleicht sich aus der Küche.