
Ein paar Wochen später kommt die Veränderung. Flüchtlingszüge halten nicht mehr in den Fernbahnhöfen, sondern werden jetzt in das kleine, viergleisige Güterzug-Depot in Schönholz geschleust, wo auch die Loks sofort versorgt werden können. Es gibt hier eine kurze Rampe, viel zu knapp für die langen Züge und einen Holzschuppen in dem die Vorräte aufbewahrt werden und die Gruppen vom Noteinsatz sich aufwärmen können. Sie arbeiten in zwei zwölf Stunden-Schichten, und sie sind jetzt auf sich selbst angewiesen. Nach kurzer Einweisung, (wir brauchen nicht drauf hinzuweisen, dass ihr von den Gleisen wegbleibt? Hahaha—) bleiben Erwachsene unsichtbar. Nur die Lokführer und Heizer, die Loks ein- und ausfahren und die mit Kohle und Wasser versorgt werden, winken ihnen zu. Nachts sind sie mit den schmalen, blassen, meist am russigen Gürtel befestigten Lampen unterwegs. Hier ist nichts überdacht. In dicht bewölkten Nächten ohne einen Lichtstrahl aus dem verdunkelten Schuppen arbeiten die Jungen und Mädel in völliger Finsternis.
Züge laufen ein. Die schweren Türen werden sofort aufgerollt. Die Jungen tragen Waschkörbe mit uneingewickelten Leberwurstbroten und reichen sie den freudig ausgestreckten, schmuddeligen Händen hinauf. Schnell, schnell, der Zug ist unendlich lang, und diesmal wollen sie unbedingt alle versorgen, wenigstens ein Wurstbrot für alle Flüchtlinge austeilen.
Nadja und der Kleene ziehen einen Leiterwagen mit einem Thermosbehälter Kaffee, aber so wenige der Menschen haben Tassen oder Näpfe, und ihre eigenen sind so rasch aufgebraucht. Die meisten wollen sowieso immer nur Wasser, möchten kleine Flaschen nachfüllen. Einige fragen, “Wie steht’s an der Front?” oder “Wo steht der Iwan?” Und sie antworten ausweichend, schwindeln auch ein bisschen. Jeden Tag dieselben Lügen.
Dann rennen sie zum Schuppen zurück und holen mehr Brote. Ein neuer Korb steht bereit, aber in höchster Eile packen Anna, Lilly und Emma den nächsten. Sie müssen die Rampe hinter sich lassen, um zu den vorderen Güterwagen zu gelangen, stolpern die eisigen Gleise entlang, rufen voraus.
In ihrer dritten Nacht hier draussen sucht Anna nach Butter im Karton, die offenen Brotschnitten schon auf dem Brett aufgereiht zum schmieren.
“Hast du die Butter schon rausgenommen, Lilly?” Aber es kommt keine Antwort. Als Anna sich umdreht, erspäht sie den Besucher.
Ein untersetzter Mann mittleren Alters in Parteiuniform kommt soeben aus der Vorratskammer, schiebt sich an Lilly vorbei, die ihn sprachlos ansieht.
Der ‘Goldfasan’, wie die Berliner die Parteibonzen schon lange nennen, hält eine lange Leberwurst in einer Hand und zwei Packen Butter in der anderen. Er strebt zur Tür, wo Lilly sich ihm in den Weg stellt, zuckt einfach mit den Schultern und geht davon.
“Weisst du auch, dass das schon das zweite mal ist?” Lilly ist ausser sich.
“Was machen wir das nächste mal mit ihm? Wir sind ohnehin so knapp. Fällt dir was ein?”
“Nein. Können wir Sachen verstecken, wegschliessen?”
“Die Tür ist unverschliessbar. Ich hab schon nachgesehen.”
Sie sagen den anderen Bescheid. Er soll mindestens hören, dass sie alle wissen. Aber er bleibt eine Woche weg, und stattdessen erscheint seine Frau.
Sie verzieht sich mit Weisskäse und einem Pfund Kaffee. Rennt beinah den Kleenen um, der draussen mit den Füssen stampft und die Fäustlinge zusammenpresst.
“Wenn er das nächste mal kommt, schlagen wir ihn einfach zusammen, aber gründlich,” ruft er ihr nach.
Eine Stunde später, um fünf Uhr morgens, finden sie den Kleenen am Ende der Rampe, mitten im Müll, fest schlafend. Sie tragen ihn hinein, massieren ihm Hände und Füsse, aber er ist unversehrt, friert nur sehr.
Sie flössen ihm etwas von dem unbeliebten Kaffee ein.
“Ich bin ihr hinterhergelaufen, konnte nichts sehen, und muss gestolpert sein hier,” sagt er.
Heute nacht ist Besuch fällig. Die Tür geht auf und drei ungewöhnliche Gestalten schieben sich herein, die Hände in den Taschen. Sie tragen die gleichen weissen Seidenschals, lässig um den Hals gelegt, schwarze Jacken, und ihr glänzend zurückgekämmtes Haar hat seit einem Jahr keinen Friseur mehr gesehen. Sie stehen stumm an der Wand und rauchen.
Fritze ist heute mit dabei und sieht nicht überrascht aus.
“Na, was gibts?” sagt er. “Was ist los?” Ruhig sieht er jeden der drei an.
Sie schliessen gelangweilt die Augen.
“Kommt ihr für die Winterhilfe sammeln?”
“Wohl kaum,” sagt einer. “Die Regierung hat jetzt genug Panzer.”
“Dürfte nicht stimmen,” sagt Fritze, “aber wir wollen heute nicht streiten. So, was darfs denn sein?”
Ein Hauch von Drohung liegt in der Luft, aber Fritze faltet die Hände im Nacken, mustert sie mit hochgezogenen Augenbrauen. Da deutet einer mit dem Daumen zur Tür und sie machen sich davon.
“Nie langweilig hier, wie?” sagt Fritze. “Die Edelweisspiraten - früher ‘n kleiner Privatclub, aber schiessen wie Pilze heutzutage. Ich hätte euch ja vorstellen können, aber weiss nicht wie die Kerle heissen.”
“Und worum geht es ihnen denn?” sagt Anna. “Weisst du was die wollen?” “Sie sind gegen unseren Führer,” sagt Fritze, “milde.”
Als Anna, Nadja und Hilde das nächstemal Dienst haben, müssen sie durch viel Schneematsch. Keiner räumt hier Schnee, und der Lieferwagen hat einfach die Kartons am Ende der Zufahrt abgeladen und sich davon gemacht. Die nächste Schicht schleppt die schweren Kartons je zu zweit in den Schuppen.
Das Depot ist den ganzen Abend schon in Bewegung. Loks fahren ein und aus, fassen Kohle, füllen Wasser nach, und die Mädel halten vorsichtig Abstand von den Schienen.
Jetzt schiebt Anna mit den Schultern die Tür auf und Lilly läuft hinein und lässt das schwere Paket fallen. In dem Moment, wo ein Lichtstrahl auf die Schienen fällt, erkennen sie eine schwerfällige Gestalt, die eben etwas anhebt, über die Bohlen läuft und im Nu verschwindet. Lilly knallt die Tür, Hilde stemmt die Hände in die Hüften.
“Warum sagen wir nicht den Fahrern Bescheid, dass sie die Lebensmittel gleich von vornherein bei der Partei abliefern sollen?”
“Der Schuft, nein, der —”
Da geht die Tür erneut auf und der Kleene wirft ein weiteres Paket zu Boden.
“Da draussen latscht einer auf den Schienen rum, quer rüber. Ich dachte das war verboten,” sagt er.
“Stimmt, und es ist stockdunkel.” Sie sind wieder draussen, mehr Kartons holen. Schneewolken verbergen den Mond, und dicke Flocken fallen nun, aber die Augen gewöhnen sich rasch, sind durch die lange Verdunkelung schon fit.
Drei Güterwagen stehen heute auf dem Abstellgleis. Zwei Loks sind im Depot. Da kommt die Gestalt wieder quer über die Gleise, ungelenk, den Blick nach unten, zur Rampe. Die Mädel rühren sich nicht, sehen ihn ein schweres Paket anheben. Er trägts hochkant vor sich her. Langsam, vorsichtig, dreht er wieder um.
Zuerst hat keiner die Lok bemerkt, die jetzt in Bewegung kommt, lautlos aus dem Depot gleitet und momentan hinter den Güterwagen verborgen ist. Sie haben keine Pfeife gehört, keinen Laut, und jetzt kommt die Lok, kommt sie bei den Waggons vor und —
Ein ohrenbetäubender Schrei von weit drüben, bei den Büschen, ein lauter Plumps. Die Lok spuckt nun heissen Dampf in die Luft, wuff-wuff, und ist schon verschwunden.
Sie klettern nun doch über die verbotenen Gleise, halten sich an Güterwagen fest, um nicht auszurutschen, und da ist er dann. An einen Signalmast gelehnt, im Schnee, ein Butterkarton ein paar Meter weiter, im Matsch. Seine Uniform ist nass und verdreckt, und er ist schlimm erschrocken, stösst Drohungen und Flüche gegen den “Scheisskerl, den verdammten Lokführer” aus, aber ansonsten scheint er nochmal Glück gehabt zu haben.
Sie helfen ihm nicht auf. Sie nehmen den Karton an sich und schleppen ihn zurück zum Schuppen.
Während der letzten Wochen ihres Nachtdienstes in Schönholz werden sie noch öfter von den Edelweisspiraten aufgesucht, die schweigend an der Wand stehen und rauchen, aber von uniformierten Dieben bleiben sie künftig verschont.