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18. April 1945
Hansi

Der Tag an dem sich Hansi in die linke Hand schoss, hatte an sich ganz harmlos angefangen, indem der Aprilregen nur so pladderte und an den schmutzigen Fenstern und Holzverschalungen herunterlief und der Leutnant die tägliche Tour zu den Panzergräben abgeblasen hatte. Sie waren fast fertig. “Waffenwartung” stand am schwarzen Brett.

“Ich habs geschnallt. Wir sind die Geheimwaffe Nr.4, die neuesten Helden, die Elitetruppe zu Rad mit Flitzbogen,” sagte Ede, “die Heimatretter, und ihr werdet’s sehen, wir gewinnen noch den Krieg. Könnt euch drauf verlassen. Wir schaffen den Ivan mit unseren flinken Fingern, den Kartenkunststücken-”

“- und das Beste kommt erst, dem noch nie gesehenen, sensationellen Spiegeltrick,” sagt Motz zustimmend.

“Geh mal einer hin und sag dem Leutnant, dass er ein Sortiment bestellt, zu Führers Geburtstag!” sagt Ede.

Sie standen nun doch vor den Barracken, der Feldwebel mit zwei Panzerfäusten im Anmarsch, als zwei einzelne Jagdflieger durch die Wolkendecke stiessen, die frisch gepflanzten Kartoffeln beschossen und mit lautem Motorengeheul steil hochzogen, in höflicher Verschonung der Berliner Villen. In der Verwirrung hörte niemand den Schuss, der aus dem Büro kam, aber die Tür flog auf und ein verstörter Hansi kam herausgerannt und hielt die blutende Linke hoch. Da der Sani heute nicht da war, lief der Leutnant direkt zum Kübelwagen.

Lilly kam mit einem sauberen Handtuch aus der Küche, legte es um die Wunde und versuchte, mit ihrem Halstuch notdürftig die Ader abzubinden. Emma legte einen Arm um Hansi, und Ulli zeigte in Richtung Stadtbahnhof und sagte, er wisse, wo eine Arztpraxis sei. So rasten sie los, und Hansi tropfte alles voll.

“Der Junge muss auch immer mit seiner Waffe rum machen,” murmelte der Obergefreite Peters, wohl gewahr, dass Hansi das Maskottchen der Belegschaft war. Und bekam prompt Dresche.

“Wie? WAS?” protestiert Motz, “Wir alle hatten eher den Eindruck, dass er das verdammte Ding nie finden konnte!”

“Die andern haben Hansi immer damit genervt, dass er die Pistole dauernd irgendwo liegen lässt,” sagte Emma, “aber woher hatte er heute Patronen? Also wenn sie zu Dr. Havemann gefahren sind, dann ist er in den besten Händen. Bloss fünfzehn Minuten von hier.”

“Widmen wir uns mal dem Glück im Unglück,” sagte Motz. “Für den Kleenen ist der Krieg zu Ende. Nichtmal mit zwei heilen Händen konnte er das Rad richtig-”

“Stimmt. Aber ich wette, er konnte stundenlang ein ungesatteltes Ross in Schach halten,” meldete sich Axel, “habt ihr mal auf seinen Gang geachtet? Der kommt aus Westpreussen oder Pommern, der Hansi.”

Damit war das Programm “Waffen- Wartung” für den Tag erledigt.

Um die Ordnung wieder herzustellen, die eigentlich bereits hergestellt war, befahl der Feldwebel nun Scheibenschiessen und sie machten sich auf den Weg in die Tongruben. Heute würden keine der knappen Panzerfäuste abgefeuert, aber vor allem wollte der Feldwebel vermeiden, dass noch eine mit “ffff-t plop” beim Aufschlag reagierte.

Die genauen Umstände von Hansis Verwundung blieben im Dunkeln. Wie er eigentlich den Zeigefinger- und Daumennagel losgeworden war, konnte keiner aus ihm herausfragen, aber bei ihrer Rückkunft musste sich Hansi erstmal in der Küche melden.

“Ulli, hast du vielleicht was -” Aber Ulli schüttelte den Kopf. Sobald sie in der Praxis angekommen und miteinander hineingegangen waren, sei er in das volle Wartezimmer abgeschoben worden. Eine ältere Ärztin und ein jüngerer Kriegsversehrter führten hier das Kommando. Ulli berichtete jedoch, dass er den Leutnant während der ganzen Zeit am Telefon gesehen habe, in der Hansi drinnen verbunden wurde. Er fügte hinzu, dass der Arzt ein Attest angeboten habe, wonach Hansi offensichtlich nicht länger fähig war, beim Volkssturm zu dienen.

“Ja und? Wo ist es?” fragte Axel. “Hat es der Leutnant?”

Die Jungen standen in einer der Barracken beieinander, während der Regen von Neuem strömte. Ulli sah sich im Kreise um, sah Axel, Ede, Motz, Gustav, Christian und Tom, unzertrennlich wie immer, Rainer, Anna und Lilly auf dem Sprung an der Tür.

“Der Leutnant weigerte sich, das Attest anzunehmen. Er erklärte dem Arzt, der Hansi eigentlich zur Beobachtung gleich dabehalten wollte, dass eine Untersuchung des Unfalls vorgesehen sei. Er müsste Hansi zu einem Verhör vorführen.

“Ach du grosser Geist! Wer spielt hier eigentlich Poker! Dieser Krieg ist doch in der Latrine!” sagte Axel. “Sollte er nicht was Schriftliches bei sich haben? Oder? Ich verstehe nichts mehr. Wirklich nicht.”

An diesem Morgen hatte Lotte so getan, als machte sie ein Feuer im Bullerofen und sich beim Asche-Ausräumen viel Zeit gelassen. Der Feldwebel machte auf einmal die Bürotür zu und brüllte ins Telefon.

“Ich will endlich eine klare Antwort,” schrie er, “kriegen wir heute die Identitätsmarken für die Volkssturmeinheit oder nicht? Das ist das VIERTE MAL, das ich anrufe. Sie haben versprochen - doch SIE! Ein Drittel der Jungen haben keine Mützen, vierzig haben immer noch keine Uniformjacke und Halstuch. Die Front kommt näher, und ich werde nicht dulden, dass diese Einheit vom Feind als Partisanenhaufen behandelt wird. Ist das jetzt hundertprozentig klar? Verstehen wir uns? Ausgezeichnet!” Und er knallte den Hörer auf, stürmte hinaus in den Gemeinschaftsraum und Lotte in die Arme.

“Arschlöcher,” brüllte er, “Vollidioten, alle wie sie da sitzen!”

“Wer?” fragte Lotte, “die Wehrmacht?”

“Ach, wär DAS schön,” schrie er wieder, “Ich wünschte, die Wehrmacht hätte das Kommando. Wusstet ihr eigentlich dass die PARTEI für den Volkssturm verantwortlich ist?”

“Die Partei?” Lotte hatte es nicht gewusst. “Wie machen die denn -?”

“NICHTS MACHEN SIE, sie bauen SCHEISSE, das ist ja die Krise. Die fetten Kerle klauen eure Zuteilungen-”

“Ja, das weiss ich,” sagte Lotte, “das habe ich letzten Sommer beim Bombeneinsatz mit angesehen. Kamen nachts in die Bunker und versorgten sich mit den Lebensmitteln für die Ausgebombten. Haben sich den Teufel drum geschert, dass wir da standen und alles gesehen haben. Haben einfach geklaut.”

“Lotte, die Jungens haben noch immer keine vorschriftsmässigen Papiere für die kämpfende Truppe. Wisst ihr, was wir in Jugoslawien mit Partisanen gemacht haben? Mit Heckenschützen?” Er rannte hin und her.

“Und wenn wir nicht endlich mehr Munition kriegen, stellen wir uns den T34 mit Mistgabeln und Schneeschaufeln! KEIN Wort davon an die andern.” Und er rannte zurück ins Büro und knallte die Tür.

Lotte ging hinaus und informierte alle Mädel.

18.4.1945.

Spät am Abend des 18. April schläft niemand. Der Leutnant ist in die Küche gekommen, hat zwei Ascheimer mitgenommen und Lilly um einen dritten gebeten. Als Lilly ihn bringt, nimmt sie rasch einen Packen Papier vom VERTRAULICH- Kasten auf dem Schreibtisch und schiebt ihn in ihren Kittel. Sie werden die Zweitagesrationen der Jungen einschlagen müssen. Der Abmarschbefehl kann jederzeit kommen. Der Leutnant knüllt Papier und verbrennt immer wieder alles mit dem Feuerzeug. Er ist allein. Bulleröfen sind offenbar nicht verlässlich.

Als er sich abwendet, läuft Lilly durch den Gemeinschaftsraum hinüber in den Schlafraum der Mädel und versteckt das Papier unter ihrem Strohsack.

Hansis Brief

Sie haben Besuch, stellt sich heraus. Dem Klang nach zu urteilen ist es das einzige im Stimmwechsel begriffene Mitglied der ganzen Belegschaft.

“Kannst du das mal buchstabieren,” bittet Anna grade.

“Annette oder Buddigkeit,” will Hansi wissen.

“Ich weiss wie man ‘Annette’ schreibt,” sagt Anna, “buchstabier nur Euren Nachnamen, bitte.” Und so tut Hansi das, und dann noch den Namen eines kleinen Ortes in Westpreussen.

“Ich überlege grade, ob es richtig ankommt, wenn wir diese, diese alte Adresse da drauf schreiben,-”sagt Anna, mit dem Füllhalter in der Luft.

“Weisst du, wo deine Mutter und dein Vater-”

“Mutter und Grossvater,” korrigiert Hansi, “wo wir eigentlich hin wollten?” “Ja, ursprünglich, bevor ihr getrennt wurdet,” sagt Anna.

Emma und Monika liegen angezogen auf den Betten, die Hände über den Augen, um sie gegen das grelle Licht zu schützen.

“Naja, wir wollten zu Mamas Kusine in der Nähe von Dresden, aber wir haben zu lange gewartet, hätten schon vier Wochen eher wegfahren sollen, gleich als der erste Brief ankam. Mama wollte nicht unsere ganzen Sachen so zurücklassen, aber vor allem wartete sie auf Nachricht von meinem Vater.”

“Ja, natürlich. Ich verstehe. Und kannst du dich an irgendwas wie ne Adresse von diesen Verwandten erinnern? Den Ort?”

“Nein, aber es ist auch egal. Ich weiss ja, dass sie sowieso nicht da sind.”

“Wieso bist du da so sicher?”

“Na, meine Familie wurde von den Russen überholt, der Armee. Ihre Panzer sind einfach so über die Felder gekommen. Unsere Wagen konnten doch auf den matschigen, verstopften Landstrassen nicht voran. Alles durcheinander, alle die steckengebliebenen Wagen in langen Reihen, die warteten, dass einer sie aus dem Schneematsch zieht. Zum Schluss sind die meisten einfach zu Fuss losgegangen, haben alles stehen lassen.”

“Gab’s keine Züge?”

“Nein, nicht genug Züge. Zuerst haben die Leute gedacht, sie können in den überfüllten Waggons nichts mitnehmen…”

“Bist du also auch gelaufen?”

“Nein, ich hab das Pferd genommen.”

“Waaaas? Du, - also entschuldige, lass uns jetzt einfach mal den Brief an deine Mama schreiben.”

Und so erfuhren Anna, Emma und Monika Hansis Geschichte.

“Liebe Mama und Grossvater, eine Freundin schreibt das für mich, weil ich einen kleinen Unfall mit der linken Hand hatte, aber macht euch nichts draus. Also, ich bin jetzt in Berlin, nicht IN Berlin, aber am Rand so. Die ersten drei Wochen war ich in dem Lager mit ‘nem Haufen von andern Jungen. Ich und Henning, (der ist aus Gumbinnen), wir sind von paar Landsern in ‘nem grossen Laster mitgenommen worden, wie ich den Max auf dem Hof lassen musste. Max hat gelahmt, (rechtes Hinterbein), aber die Leute haben ihn gern genommen, und nach dem Krieg bekommen wir ihn wieder. Henning und ich haben ihnen mit dem Vieh so geholfen, und wir konnten da schlafen und sie hatten viel Milch und Käse. Wir wär’n ja länger geblieben, aber die Landser kamen rein und haben alle weggescheucht: los, los. Die Familie hat mir einen Mantel geschenkt und Proviant für Henning und mich, aber sie sind da geblieben, weil die Tochter jeden Moment ihr Kind kriegen sollte, also sind sie da geblieben. Ich weiss auch nicht mehr, wo’s genau war. Max und ich wir haben uns ja nah an der Küste an die Feldwege gehalten, und in die Wälder nachts, wie Grossvater gesagt hat. Aber da waren so viele andere Leute unterwegs, ihr wisst ja, tausend Millionen, und die konnten ja alle auch nicht weiter. Erst wollte ja niemand was zurücklassen. Einmal haben sie Max geholt, wo sie eine Kreuzung freiräumen wollten. Max hat sich so angestrengt, aber er kann’s einfach nicht haben, wenn sie ihn schlagen. Da ist dann ein Offizier gekommen und hat ihn zurückgebracht. Er hat sich so gut gehalten, nur wenn wir über die Brücken mussten, und das Gebrüll und Geschiebe an allen Seiten, da wird er halt nervös, da geht er hoch. Einmal ist er so ausgebrochen, da wollten sie ihn erschiessen, aber ich hab’s nicht erlaubt. Die Wehrmacht hat sich angestrengt zu helfen, aber die Leute hatten so viel Zeug, und es gab keine Laster mehr. Na, als ich Max da auf dem Hof gelassen hab, da sind Henning und ich mit auf einen drauf gekommen, weil wir nix hatten, nur meinen Rucksack. Da haben sie uns reingequetscht.

Ich denke immer an euch, überleg mir, wo ihr jetzt seid, aber ich hab uns beim Roten- Kreuz Suchdienst angemeldet, und die finden euch.

Sie erwarten, dass der Russe hier auch herkommt. Bald. Wir hören das Geschützfeuer in der Ferne, aber ich habe vor, zu der Kusine in Dresden mich durchzuschlagen, sobald das geht. So wie du’s gesagt hast, Mama.”

Hansi endete mit den Worten. “Es tut mir jetzt leid, dass ich los bin als ihr gesagt habt, ich soll den Max nehmen. Ich würde euch gern helfen, wo ihr jetzt seid, du und Grossvater.

Alles Gute, und bis bald.

Ach, können wir ein P.S. reinschreiben?”

“Warum nicht?”

P.S. Ihr kennt doch noch Alain? Der Kriegsgefangene drüben bei Petereits?

Ich glaube, ich hab ihn im Wald gesehen, versteckt mit noch einem und ‘ner Frau; haben alle französisch geredet. Er hat mich auch gesehen.

P.P.S. So Leute wollten Max beschlagnahmen, aber dann haben sie’s gelassen. Andre haben eingegriffen.

Mit bestem Gruss,

Walther.”

“WALTHER!”

“Ja, so heisse ich. Hansi, so habt ihr mich doch genannt.”

“Hansi, nee Walther? Wenn du doch ein Linkshänder bist, wie kommts denn, dass du dir in die linke Hand geschossen hast?”

“Naja, er wollte mir nur zeigen, wie mans richtig macht, verstehst du? Die Waffe hält?”

“Ach ja?”

“Ja.”

“Dann kannste das also nicht unterschreiben?”

“Nein. Ich bin Linkshänder, für ‘ne Weile gehts nicht.”

“Wo soll ich nun den Brief hin adressieren, Hansi?”

“Ich muss mal drüber nachdenken.”

“Hansi?”

“Ja?”

“Eine Riesenmenge Flüchtlinge sind durchgekommen, ham’s geschafft, weisst du? Es ist möglich. Gut möglich. Lilly und ich, wir waren in diese Kriegsdiensteinheit eingeteilt vor ein paar Monaten, im Winter. Wir waren an den grossen Fernbahnhöfen, wo die Flüchtlingstransporte aus dem Osten durchkamen, lange Güterzüge mit Familien und ihrer Habe. Manche waren Wochen unterwegs, und wir haben sie mit Broten und Suppe versorgt. Viele sind in der letzten Minute weggekommen, als die Russen nochmal zurückgedrängt wurden. Viele kamen von sehr weit im Osten, und sind trotzdem durchgekommen, Hansi, direkt vor der Nase der Russen weg. Es ist gut möglich.”

“Ja, ich glaub’ schon. Man weiss ja nie. Das Rote Kreuz wird sie finden.”

Als Hansi zu seiner Barracke zurückschleicht, setzt sich Monika auf.

“Wir mussten ja mithören. Du und Lilly, was habt ihr da gemacht? An den Bahnhöfen? Wie hatten die -?”

“Ach ‘ne Jungmädel-Kriegseinsatzgruppe. Eigentlich sollten wir ja offiziell nicht da sein, weil die Schulen geschlossen sind, aber sie haben sich sehr gefreut, uns zu finden und einzuspannen.”

“Ich weiss ja, dass wir nicht hier sein sollten. Wir waren bis Februar bei Verwandten im Elsass, aber dann haben meine Eltern uns wieder geholt.”

“Monika, ich wollte Hansi nicht so genau das sagen, - und er scheint ja mit angesehen zu haben, was seiner Mutter und dem Grossvater passiert ist — aber Tausende dieser Flüchtlinge sind jede Nacht durchgekommen, auch in offenen Güterwagen, wie Sardinen. Wochenlang auf den Schienen, ohne etwas zu essen oder zu trinken, in der bitteren Kälte. Eine der Krankenschwestern hat uns mal gesagt, immer wenn der Zug auf offener Strecke halten musste, haben sie die Türen aufgeschoben und die Toten hinausgeworfen, in die Wiesen, und die Türen wieder dicht gemacht. Wenn wir an den Waggons entlanggingen, mit Brotkörben und Kaffee oder Suppe, sie hatten nie Tassen oder irgendwelche Gefässe, wussten nicht, wieviele Kinder noch bei ihnen übrig waren. Stumm. Völlige Stille mit all den Menschen im Waggon. Ich hatte immer so eine grosse Schlinge mit Säuglingsfläschchen um den Hals und musste am Zug entlanggehen und fragen, ob sie Kleinkinder dabei hatten. Einmal, als eine Frau ja gesagt hatte und ich ihr eine Flasche hinaufreichte, übergab sie mir stattdessen ein steifes winziges Bündel.”

“Oh Gott, Anna,” sagte Monika, und Emma rutschte von ihrem Bett oben herunter.

“Ich bin umgekippt,” sagt Anna, “das einzige mal, wo ich schlapp gemacht habe. Die haben mich, den Säugling und die Flaschen aus dem Schneematsch aufgesammelt. Die Frau starrte so vor sich hin, hatte weisses Haar, erst dacht ich hellblond, aber nein, weiss.”

“Und dann? Was geschah mit dem kleinen Leichnam? Weisst du das?”

“Das Rote Kreuz hat immer morgens die Leichen abholen lassen. Wir vom Nachteinsatz waren ja immer am Rennen, den ganzen langen Zug zu schaffen, bevor die auf einmal schon wieder losfuhren. Bei Voralarm gings sofort weiter.”

Flüchtlinge aus dem Osten

Flüchtlingstransport aus den umkämpften Gebieten im Osten Deutschlands treffen im Februar 1945 in Berlin ein. Das Gepäck der Flüchtlinge wird aus dem Zug geladen.

“Ich möchte bloss wissen, wo sie all die Menschen untergebracht haben. Wir fuhren ja in die entgegengesetzte Richtung, zurück nach Berlin, und da kamen wir durch viele Kleinstädte und Dörfer, die waren rappelvoll mit Flüchtlingen und Ausgebombten — aber bis unters Dach,” sagte Monika.

“Tja, ich hab’ auch keine Ahnung. Sie rennen vor den Russen weg und genau in die Arme der anderen, die mit ihren Panzern in Richtung Osten halten. Ein Strom von Menschen, alle nur unterwegs, aber wenigstens hatten diese Flüchtlinge Züge erwischt und fuhren weiter. Ich bin bloss froh, dass Hansis Familie wenigstens nicht auf einem dieser Lazarettschiffe war, die in der Ostsee torpediert worden sind.”

“Was? Wovon ist die Rede? Davon weiss ich ja gar nichts.”

“Monika - hätte ich doch den Mund gehalten, das will auch keiner so genau wissen.”

“Doch, los,” sagt Emma. “Wir wollen’s hören.”

“In Gotenhafen, glaub’ ich, sind Tausende von Flüchtlingen auf diesem früheren KDF- Schiff “Wilhelm Gustloff” untergekommen, auch hunderte von Verwundeten, neuntausend insgesamt, und dann ist es im Januar torpediert worden. Nicht viele konnten gerettet werden.”

“Anna! Ich habe noch nie davon gehört. Willst du sagen, dass ein Flüchtlingsschiff mit neuntausend Opfern gesunken ist? Woher weisst du das denn?”

“Eine Frau mit zwei kleinen Kindern, Flüchtlinge aus Westpreussen, waren wochenlang bei uns untergebracht diesen Winter. Die hatten tagelang in einer Riesenschlange im Schnee im Hafen gewartet, um von einem Schiff mitgenommen zu werden. Es waren Tausende von Menschen da, und viele schon vor ihnen, und als die “Gustloff” kam, sind sie dann nicht mitgekommen. Aber danach kam ein kleines Schiff der Kriegsmarine, und da hatten sie Glück. Sie legten später in der Nacht ab, zu spät für einen Geleitzug für die “Gustloff” und da fanden sie Wrackteile und alle die toten Menschen im Wasser bei 20 Grad Kälte. Ihr Schiff konnte einige wenige aus Rettungsbooten aufnehmen. Die Frau hörte später, dass ihre Tante auf der “Gustloff” umgekommen ist. Angeblich ist am nächsten Tag noch ein Flüchtlingsschiff, die “Steuben”, mit dreitausend Flüchtlingen und Verwundeten torpediert worden.”

“Oh Gott, was für ein entsetzliches Schicksal.”

“Ja. Meine Mutter hat die ganze Nacht geweint, als die Frau die Nachricht über die Tante bekam und uns alles erzählt hat. Aber jetzt kann sich Mutti nicht mehr daran erinnern.” “Ich verstehe. Sie will nicht mehr darüber sprechen.”

“Nein, erinnert sich nicht. Hat es schlicht vergessen.”

“Naja, irgendwie ist es vielleicht besser so.”

Lotte kam herein und fragte, ob sie ihr noch helfen könnten.

“Was macht’n ihr hier, plant ihr ‘ne Hochzeit, oder was?”