“Der Feldwebel ist doch ein verdammtes Arschloch,” flucht einer der Jungen als später an diesem Abend wieder pünktlich das Licht ausgeht.
“Nein, das ist er nicht,” sagt Axel, er und Henning die einzigen Nicht-Berliner in dieser Barracke.
“Er erinnert sich lediglich mitunter, dass er mit Vornamen ‘Feldwebel’ heisst, und dann benimmt er sich wie einer.”
“Mein Bruder sagt, die ganze Welt hat Feldwebel gefressen,” sagt Rainer.
“Jetzt lass uns mal alle raten, welchen Rang der hat,” sagt Ede.
“Mein Bruder sagt, wir sind ein unheimlich voreingenommenes Volk. Wir urteilen unüberlegt, übernehmen anderer Leute Meinungen, schenken uns das selbständige Nachdenken, weils eben einfacher ist. Wir sehen so’n Judenstern auf ‘nem Mantel und denken sofort, ‘da ist wieder einer von den Dreckjuden.’ Das regt ihn auf, dass sich niemand die Zeit nimmt, sich selber ein Urteil zu bilden…”
“Na, das war ja eine Rekordrede fuer Rainer,” kommt eine Stimme von dem Oberstock. “Aber ich muss sagen, ich war froh als sie den Stern nicht mehr tragen mussten. Ich hab jahrelang keinen mehr gesehen. Das war ja ein Jammer, all die deprimierten Leute in der U-Bahn.”
“Ja, und die Ostarbeiter brauchen auch ihr ‘O’ schon lange nicht mehr zu tragen. Ist eigentlich widerlich, so Marken an Menschen zu kleben.”
“Ich habe noch nie einen Juden gesehen. Wie sehn die denn aus? Also, es gibt doch keine Leute, die so sind wie die Plakate, oder?” fragt Henning.
“Nein, du hast recht. Du bist im Osten auf dem Land aufgewachsen, und es ist einfach so, dass die aussehen wie andere Leute auch. Meine Mutter hat mal gesagt, dass die, - das sind wir, die Nazis, - den Juden den Stern an die Mäntel geheftet haben, damit die Leute sie hassen sollten, aber es war wieder mal saudumm, weil allen hätte klar werden müssen, wie sehr sie uns anderen ähneln-”.
“Ausser, dass es so nicht gelaufen ist,” sagt Axel. “Die Leute sehen nur den Stern. Dein Bruder hat ganz recht, Rainer, wir sind ein faules, ängstliches, ja ängstliches Volk geworden, nicht wie wir früher mal waren.”
“Mein Vater - diese Geschichte bleibt unter uns oder es könnte unangenehm werden,” sagt Motz.
“Will ich das hören?” fragt Gustav.
“Nein, wahrscheinlich nicht, also geh raus pinkeln, oder du hörsts,” sagt Motz, aber keiner verlässt die Baracke.
“Eines Morgens war mein Alter ganz früh unterwegs nach dem Verladebahnhof. Da kommt er an diesem kleinen Park vorbei, wo eine Frau und ein Mann auf einer Bank sitzen, gut angezogen, so um die fünfzig. Erst geht er weiter, und denn geht ihm auf, dass es ja eigentlich sehr komisch ist, dass die da um vier Uhr morgens auf der Bank sitzen. Und wie er wieder zurückkommt,” - hier hält Motz ein, nicht sicher wie er sich ausdrücken soll. “Naja, es war nicht alles in Ordnung. Die waren tot, steif bereits. Sie hatten den Judenstern auf den Jacken und ein weisses Schild so um den Hals gehängt:
“WIR SIND JÜDISCHE MITBÜRGER. WIR NEHMEN UNS DAS LEBEN AUS PROTEST GEGEN DIE VERFOLGUNG UNSCHULDIGER”.
Einen Moment herrscht betretene Stille. Dann fragt Axel, “Kannst du dich erinnern, wann das ungefähr war?”
“Frühjahr 1942, weiss ich genau. Als mein Alter da so steht und überlegt, was er jetzt machen soll, kommen schon Feldgendarmen angerast. Die springen raus und zerren die beiden Toten hinten in den Wagen. Dann fängt einer an meinen Alten zu verhören, alle Einzelheiten, Familie und so, hat ihn ganz schön geschlaucht. Aber hat nie wieder was gehört.”
“Ja, ich glaub die Geschichte,” sagt Rainer. “Die haben diese Leute in unserem Wohnblock aus ihrer Wohnung verwiesen, vor paar Jahren, haben ihnen genau eine Stunde Zeit gelassen, aber dann war’n sie schon nach einer halben Stunde wieder zurück, mit sehr verdächtig aussehenden Typen in Ledermänteln. Zum Glück hatten unsere Nachbarn sich schon aus dem Staub gemacht. Einfach ganz kleine Taschen genommen und los. Da hat die Gestapo die Reinemachefrau verhaftet.”
“Tja, wenn’s dahin kommt,” sagt Axel, “wenn die Hüter der Ordnung und des Rechts, also wenn die oben kriminell werden, woran kann man dann eigentlich glauben, und an wen soll man sich noch wenden?”
“Also wenn sie uns noch mehr Philosophen hier rausschicken, schlage ich vor, wir verwenden sie als Zielscheibe. Nicht dich, Axel. Wir brauchen ja ‘nen Mann fürs Klavier.” Wieder die Stimme von oben.
Endlich schlafen sie ein, alle ausser Ulli, der in Baracke IV eine Stunde später aufsteht und sich auf den Weg macht, einen Brief einzuwerfen.
Als Motz ihr am nächsten Tag von dem Gespräch berichtet, sieht Anna ihn stumm an und wird blass.
“Was ist los?” fragt Motz. Sie sieht ihm über die Schulter und sucht nach Worten.
“Was denkst du?” fragt Motz wieder.
“Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie ich das vergessen konnte. Ich versteh’s wirklich nicht. So etwas wichtiges!”
“Was? Sag doch,” sagt Motz.
“Ungefähr vor drei Jahren,” sagt Anna, “ich war zum Einkaufen unterwegs, musste über die Chausee. Ich hatte ein Netz, ein Portmonnaie und Lebensmittelkarten in der Hand und wollte grade über die Strasse. Da kam dieser grosse, offene LKW aus Richtung Stadt, rasend schnell, aber als er an die Kreuzung kam, hat er etwas verlangsamt, und ich sah all diese zusammengepferchten Menschen in ihren Wintermänteln. Auf meiner Seite war eine Frau mit langen, offenen Haaren, die sie sich mit erhobenen Händen raufte und laut jammerte. Ich hatte noch nie so etwas Herzzerreissendes gesehen-”
“Tja, ich wette, sie wusste, wo sie hinfuhren,” sagte Motz mit finsterem Gesicht. “Du sagst, die sind in Richtung Oranienburg gefahren?”
“Ja. Was meinst du damit?”
“Kannst dich drauf verlassen, sie waren auf dem Weg ins KZ Sachsenhausen. Die sperren sie unter schlimmen Bedingungen ein, lassen sie hungern. Böse Geschichten. Was haste gemacht?”
“Ich habe alles fallen lassen und bin umgedreht und nach Hause gerannt und habe meine Mutter gefragt was das bedeutet hat. Aber sie wusste es auch nicht. Sie starrte mich nur mit Entsetzen an.”
“Hast du mit jemand anderem drüber geredet?”
“Nein. Ich konnte die Worte nicht nochmal sagen, weisst du. Ja, und dann hab ich mich an das Netz und die andern Sachen erinnert, die ich hatte liegen lassen und rannte wieder hin. An die Ecke.”
“Hm.”
“Motz, ich hatte alles vergessen, bis du eben-”
“Ja, ich weiss.”