Da der Leutnant heute mit dem Sani in die Stadt gefahren ist, fällt der Schulungsabend aus.
Nachdem sie in der Küche fertig sind, sitzen die Mädel im Gemeinschaftsraum, Socken in Richtung des kalten Bullerofens. Einige der Jungen spielen Karten, Christian und Tom kritzeln wieder Satirisches auf alte Briefumschläge.
“Darf ich den mal haben?” sagt Lilly, und untersucht die Trauermarke, orange- farben mit Hitlers Profil und schwarzem Rahmen.
“Man könnte denken, er wäre tot, nicht?” sagt Tom. “Erschreckend. Wir brauchen ihn schliesslich, um uns aus diesem schauerlichen Mist zu retten.”
“Ja schon, aber wird er das?” sagt Motz. “Sensationell, Christian. Wahnsinnig komischer Schweinsverein - bei dir sieht’s immer aus wie vom Profi.” “Nimmst du manchmal Wasserfarben?” fragt Lilly.
“Nee, nie. Ich misstraue Wasser. Bin da sehr skeptisch. Ich putze mir die Zähne damit, das ist alles,” sagt Christian.
“Ich würde bloss ewig mit Radiergummi rumfummeln,” sagt Motz.
“Naja,” sagt Christian, “du brauchst keinen Gummi, wenn du dir genau überlegst, wie das Bild aussehen soll. Wie hier - ich habe diesen Strich hinter dem Ohr von dem Ferkel stehen lassen, und das Dach von der Hundehütte zuerst reingesetzt. Man macht das so, wenn man oft zeichnet. Wenn du nach ‘nem Radiergummi suchst, hast du wahrscheinlich einen schlechten Tag.”
“Stimmt. Das kann ich jedenfalls nachfühlen. Weiss jemand, ob der Leutnant ‘nen grossen Gummi im Schreibtisch hat? Da sind ‘n paar Tage, die ich unbedingt ausradieren würde,” sagt Motz.
Dann geht er zu den Mädeln beim Ofen. Die Nächte sind wieder kälter, aber sie haben nichts mehr zum Heizen.
“Ja, ich weiss nicht, aber bei uns zu Hause — meine Eltern sagen uns nie direkt was über’s Leben oder so,” sagt Anna grade. “Sie reden nicht viel mit uns. Ich meine, sie vermitteln uns Sachen, aber es ist mehr als ob sie uns vormachen, vorleben, wie wir uns verhalten sollen. Ohne Ausnahme. Und man darf niemals persönliche Fragen stellen. ‘Das wäre ja schnüffeln,’ meint meine Mutter. Sowas sagen sie schon mal. Bloss, unsere Nachbarin hat mal im Garten ihren Kindern gesagt, ‘Am menschlichen Körper ist überhaupt nichts Hiii-iges.’ Wir hörten das und kuckten uns an und dachten sicher, unsere Eltern würden nie und nimmer etwas so erdverbundenes, natürliches formulieren. Aber wir haben schon immer kapiert, sie erwarten, dass wir mal zum Allgemeinwohl beitragen, nicht nur hier, sondern irgendwie im höheren Sinn, für die Menschheit, soweit wir können. Irgendwie hofft man, den richtigen Moment zu erwischen, wenn er dann kommt. Keine klar umrissenen Pläne, nur so verschwommene Vorstellung im Kopf.”
“Aber Anna, weisst du denn nicht, dass du das schon längst machst? Das haben wir doch alle,” sagt Lilly. “Und ja, selbstverständlich haben unsere Eltern zugestimmt, haben uns schliesslich dreimal die Woche in die höllischen Nachtangriffe in der Stadt gelassen, um-”
“Ich will ja hier keinen Terror machen,” sagt Ede, der grade hereingekommen ist, “aber ich hab’ nicht die leiseste Ahnung, wovon ihr redet. Meine Eltern würden nicht im Traum dran denken, uns so’ne Schlinge um den Hals zu legen. Die haben mir gesagt, ich sollte denen die Hucke verhauen. Mein Vater war Amateurboxer, einer der besten. Der hat’s mir beigebracht. Also-” Er verstummt. Alle sehen ihn an.
“Wer ist ‘denen’, Ede?” Aber Motz mischt sich ein.
“So richtig frei von der Leber weg ist was Feines,” sagt er, “aber wie wir täglich zu hören bekommen, haben die Wände Ohren. Ich denke da an ein wohlgeformtes Paar.“ “Es ist doch in der Stadt,“ ruft einer.
“Woll’n wir’s trotzdem auf ein andermal verschieben?” schlägt Motz vor.
“Ja, dann also ein andermal,” sagt Axel still. Sie hatten ihn gar nicht gesehen.
“Ede ist vielleicht komisch,” murmelt Emma, “soviel ich weiss hat er doch monatelang Nachtdienst bei Bombenangriffen gemacht, genau wie wir. Das zählt wohl nicht bei ihm.”
“Etwas Höheres,” sagt Hansi da. “Mir wird immer gesagt, dass ich ein Teil von etwas Höherem werde, und-”
“Davon redet meine Oma auch immer. Sie meint, wir sind ein Teil von ‘nem grösseren Plan, und wenn wir nur immer geduldig unsern Weg gehen — BUMS! Da is es. Also, ich wollte sie aber auf keinen Fall lächerlich machen,” sagt Gustav.
“Hat eigentlich jemand Immanuel Kant zitiert in letzter Zeit? Ich meine die Sache mit der Aufklärung,” sagt Axel, und sie sehen ihn irritiert an.
“Er hat sowas formuliert, wie dass wir unserem eigenen Urteil trauen sollten und danach handeln.”
Ede sieht verdrossen aus.
Da meldet sich Toni. Er hat nicht hingehört.
“Bei mir kommt’s eher drauf an, welch ein Gespräch mir grad’ wieder einfällt jetzt. Der Vater hat mir gewiss mal so etwas gesagt, wie der vom Ede: ‘Sei ein Kerl. Wehr Dich!’ An ‘nem andern Tag sind halt die Umstände anders, und ich erinner mich an ‘ne andre Seite von ihm. Ich denk, das wird noch so bleiben bis-” Er stockt. “Manches wesentlich, manches net.”
Rainer sagt, er wird gegen die Russen kämpfen da sie nun einmal im Anmarsch sind, aber würde viel lieber den Arschlöchern heimzahlen, die seine Heimat zerstört haben, zu tausenden sich über den Wolken verstecken.
“Ich liege manchmal im Bett und frage mich, wie sie das immer wieder hinkriegen, Krieg über Krieg, Hunderttausende von uns rausschicken, um Hunderttausend anderer Jungs zu erschiessen, von denen wir noch nie gehört haben, von kennen ganz zu schweigen. Mein Mädchen und ich reden stundenlang darüber,” sagt Tom.
“Aaaaaa, er und sein MÄDCHEN.”
“Amelie meint, dass es wahrscheinlich trotz allem leichter ist, zu kämpfen, als sich zu drücken, aber wenn wir wissen, dass sie etwas so Schlimmes gemacht haben, oder drauf und dran sind, die Feinde, ist es nicht in Ordnung sich zu verteidigen? Sie zu hindern, aufzuhalten? Wie im Privatleben. Sollte ich nicht einen grossen Knüppel nehmen, so’n Typ abzuwehren? Ich hasse ihn dafür, dass er mich in die Lage bringt — aber ich würde mich jedenfalls verteidigen, ihn hindern.” “Ja,” sagt Christian, “ihm eine Lehre erteilen, und sicher gehn dass andere davon hören, dass sie sich’s genau überlegen — und ist das etwa nicht auch die Lehre des Krieges?”
“Nichts ist einfach, wenn vom Krieg die Rede ist,” sagt Axel. “Meine Lektüre zeigt mir, dass Kriege aus den frivolsten Gründen angezettelt worden sind, sogar aus Missverständnis, und Machtkampf allemal, Gier und Bigotterie. Und die Bevölkerung wird natürlich nie gefragt, weil ja die Vernunft obsiegen würde. Aber damit will ich nicht sagen, dass wir nicht unserem Volk gegenüber Verantwortung tragen, das Land zu verteidigen. Das ist für mich selbstverständlich, jetzt, wo der Krieg nun mal da ist.”
“Aber gegen wen verteidigen wir uns wirklich?” sagt Christian. “Ist das nicht die grosse Frage? War das nicht immer das Thema der Revolutionen, dass die Menschen merkten, sie gehörten nicht einem LandesVATER, sondern einem Scheusal. Sie wollten niemandem mehr so dienen und gehören.”
“Meinst du also, dass du jemandem gehörst?” fragt Tom.
“Irgendwo schon, verdammt, genau genommen ja.”
“Ich nicht, denen nicht,” sagt Tom, “ betrachte mich eigentlich eher als übersehen. Sie haben sich beizeiten an mich erinnert, weil ich meine Knochen hinhalten soll.” Axel hat am Klavier gesessen und still vor sich hingespielt.
“Die Frage ist doch für welche Werte wir grade stehen wollen, wir ganz persönlich. Wie sollen sich Andere an uns erinnern?” sagt er. “Was soll mal auf meinem Grabstein stehen?”
Die Sirenen heulten draussen. Der Tagesplan des Feindes war mal wieder mit ihrem in Konflikt geraten. Sie machten das Licht aus und blieben sitzen. Aber der Feldwebel war zurück und stand schon in der Tür.
“Na los,”sagte er, “ihr habt alle gehört, was ich gehört habe. Draussen im Graben kann man weiter reden. Los, los. Heutzutage brauchen die nicht lange.”
Christian stolpert unmittelbar vor Anna hinaus und läuft bis ganz ans Ende des Unterstands. Sonst der unbeliebteste Platz. Er hockt sich hin und hält den Kopf in den Händen.
“Christian?” sagt Anna leise.
“Nein, bitte, ich kann jetzt nicht reden.”
“Bevor der Herr die Welt erschuf, war er allein. Nachdem er sie zerstört hat, wird er wieder allein sein…” tönt eine sonore Stimme aus dem Dunkeln.
“Komm, das ist doch wieder so ‘ne Scheissidee aus der Mystik, oder?” wehrt sich Rainer.
“Um mit unse Nachbarin zu reden, ‘det is mir zu hoch,’” sagt Ede, “wenn wir so weitermachen, schaffen wirs ganz alleine,” und damit ist das Thema fürs erste erledigt.
In diesen Wochen würde sich Anna der Bruderschaft der Männer näher verbunden fühlen als irgendwann in ihrem späteren Leben. Sie alle fühlen sich hundert Jahre alt einerseits, und andererseits, unvorbereitet in eine erschreckend authentische Realität versetzt, der Sache trotz schnodderigen Redens noch immer verpflichtet. Doch sind sie auf der Suche nach einem echten, eigenen Beitrag. Da dämmert ihnen, dass lediglich ihr junger, gesunder Köper gefragt ist, und seine Kampfkraft. Und sie nehmen es an, fügen sich dem Ritual der Aufnahme in die Welt der Erwachsenen in dieser Zeit, unabänderlich und trotz allem legitim.