Lotte schnarchte wieder, aber Anna meinte draussen Schritte zu hören. Rasch nahm sie ihren Mantel und griff sich ihre Stiefel unterm Bett.
Und schlich sich zur Tür.
Der nächtliche Spaziergänger auf dem schrägen Weg über die Felder ist schmal, läuft mit hochgezogenen Schultern. Als sie ihn einholt, scheint er nicht überrascht.
“Hau ab,” sagt Ulli. “Geh zurück. Lass mich in Ruhe. Du kriegst nur Ärger.”
“Nein, Ulli, DU kriegst Ärger. Da schiebt doch einer Posten!”
“Rainer. Es geht in Ordnung. Der weiss Bescheid.”
“Wo gehst du hin, Ulli? Ich hab dich schonmal loslaufen sehen. Was machst du nachts? Ich behalt’s für mich.”
“Na, wenn du’s unbedingt wissen musst, ich schmeiss’ was in den Briefkasten. Nein, ich will es nicht durch die Post im Büro machen, das ist es eben.”
“Ich komm mit. Ich muss mir die Füsse vertreten, kann nicht schlafen,” und sie läuft neben ihm, mit losen Schnürsenkeln. Ulli sieht Anna von der Seite an.
“Dir ist alles wurscht,” sagt er nach einer Weile.
“Was wurscht, wie meinste das?” fragt Anna.
“Na, erwischt zu werden, zum Beispiel. Du bist so sicher in allem. Machst einfach, was du willst.”
“Ach wo, das stimmt doch nicht — eben sah es eher so aus, als ob DIR alles egal ist, oder?”
“Ich hab’ immer so sein wollen. Diese Gewissheit wollte ich haben, dass ich genau da hin gehöre, wo ich war, dazu gehöre, aber ich hab’s nie geschafft. War immer irgendwie draussen.”
Anna sagt nichts. Wartet.
“Dann dachte ich, es wär’ einfach ‘ne Frage des Erwachsen-werdens, wo man ‘ne echte Sache mit beiträgt, irgendwas, verstehste was ich meine? Dann würden sie mich reinlassen.” Ulli macht wieder eine Pause.
“Aber dann kam mir der Gedanke, dass meine Eltern auch nie so richtig von sich überzeugt waren - so als ob jemand anders Schlüssel zu einem Kasten hätte und nicht teilen wollte, ‘nem Kasten mit Antworten oder so. Haste ‘ne Ahnung wovon ich rede?”
“Naja, ich denk grade drüber nach. Ich weiss nicht genau -aber,” und sie stockt. Eine Weile laufen sie schweigend weiter.
“Nein. Ich muss erst drüber nachdenken, was du da gesagt hast. Meinst du ‘ne Art von Wahrheit?”
“Ja. Nein. Nicht richtig. Ist auch egal.”
“Ich hatte keine Ahnung, dass ich als ‘so sicher’ ankomme. Weil das einfach nicht mehr so ist, seit mindestens vier Jahren. Leute die so sicher scheinen, bilden sich vielleicht nur ein, sie wüssten Bescheid. Weiss man denn was für Fragen sie stellen. Ich bin vor drei Jahren aus der Kirche ausgetreten - bin ins Schulbüro gegangen und hab die Direktorin gefragt, was ich zu tun hätte.”
“Oh Mann. Was hat sie gesagt?”
“Sie war entgeistert. Hat meine Klassenlehrerin ins Büro gerufen. Sie wollten wissen, warum ich sowas vor hatte.”
“Na und? Was haste gesagt?”
“Ich hab ihnen gesagt, ich wär’ am Abend davor im Kino gewesen und hätte die Wochenschau gesehen. Sie zeigten die neuesten Artillerie-Stellungen, wo die Priester und Pastoren standen und die Geschütze segneten, und ich hab mich wahnsinnig aufgeregt und bin nach Hause gerannt.”
“Anna, ich will Dich ja nicht nochmal aufregen, aber das ist genau so’n Thema das ich meine. Was ist, wenn alle die englischen und französischen Priester und anderen Geistlichen, wenn die genau in diesem Moment dasselbe machen?”
“Das hat die Klassenlehrerin auch gesagt, unsere Englischlehrerin. Sie tun es offenbar - aber verstehst du nicht, dass es genau darum geht? In diesem Krieg sterben hunderttausende von unschuldigen Menschen, Männer, Frauen und Kinder, und die Kirchen applaudieren auch noch?” Anna zittert. “Meine Eltern waren sehr erschrocken über das was ich gemacht habe, aber als ich’s ihnen erklärt habe waren sie still.”
Sie haben die ersten Häuser erreicht und Ulli geht zielbewusst weiter.
“Das ist nicht einfach, Anna. Wir sind bei uns nie in die Kirche gegangen oder so, aber ich war getauft, verstehst du? Hast du mit einem Pfarrer darüber geredet?”
“Ich kenne keinen. Wir sind auch nie zur Kirche gegangen. Aber Lilly schon. Sie war grade bei ihrer Grossmama in Ostpreussen als das passiert ist. Sie hat geweint, als ich ihr später davon erzählt habe. Sie sagt, es ist eine alte und geehrte Tradition -seit hunderten von Jahren haben die Kirchen die Waffen gesegnet.”
“Naja, sollten sie etwa nicht ihre Seite stützen, als Zuspruch und so?”
“Ja, sollten sie wirklich? ‘Right or Wrong, my country?’”
“Ssshhh, wir brüllen hier geradezu. Was heisst das, was du gesagt hast?”
“Ein altes englisches Sprichwort: Recht oder Unrecht, mein Vaterland!”
“Hmmm.”
“Sieh mal, Ulli, ich kann nicht richtig darauf antworten, was du gesagt hast vorhin, das mit nicht dazu gehören und so, aber ich weiss ganz genau, wann ich dieses Zugehörigkeitsgefühl verloren habe, das Zugehören zu einer grossen bedeutenden Gemeinschaft. Ich war zwölf. Unsere Schule war beteiligt an diesem KLV- Lager.”
“Ich weiss, Kinderlandverschickung, meine Schule auch.”
“Bist du mit weg?”
“Nein, meine Eltern - red weiter.”
“Na, wir wurden zur Ostsee geschickt, auf die Halbinsel Hela, in dieses winzige verlassene Nest. Kein Alarm, keine Bomben, haufenweise zu essen, frischer Fisch, lauter Freunde um sich. Die Polen die das Hotel versorgten, waren furchtbar nett zu uns. Wir hatten ja Heimweh und so. Aber es war ‘ne prima Zeit. Meine Schwester war auch dabei. Eines Tages marschieren wir zum Flaggenappell, und singen, wie immer, und da war’s als wenn ich die Worte, den Text den wir sangen, zum ersten mal hören würde. Ich hörte richtig hin, auf die Worte, und ich erinnere mich genau an den Moment, wo ich dachte, ‘nein, diese Zeile, das ist doch ein Irrtum! Das kann ja nicht stimmen.’ Und ich blieb beinah stehen, weil es mich so beim Wickel hatte. Ich konnte irgendwie nicht weiter, verstehst du?”
“Wie ging der Text?” fragt Ulli. Mitten in ihrem Bericht hat Anna kapiert, dass sie vor genau dieser Frage Angst hat, die natürlich kommen musste.
“Es ist egal,” sagt sie ausweichend, “es geht um was anderes, darum, dass ich mein ganzes Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit in der Gruppe verloren hatte, und mir aufging, das es eine schreckliche Entdeckung für mich war, nichts Harmloses.” “Wie ging der Text? Das ist mir wichtig,” sagt Ulli.
“Naja, es geht darum,”
“Wort für Wort. Ich weiss doch, dass du dich erinnerst, Anna-”
Natürlich kennt sie den Text. Erst sagt sie, dann singt sie das bekannte Lied und die Zeile, ‘Was zum Glück soll frommen, muss erblutet sein!’ Ulli singt die letzten drei Worte mit. Sie sind ihnen allen nur allzu bekannt, die sie in der Hitlerjugend aufgewachsen sind, dem Teil ihres Daseins, der nicht der Familie und der Schule gehört.
Sie laufen weiter an den verdunkelten Häusern entlang, auf der menschenleeren Strasse. Ulli wirft den Brief in den Kasten und dreht sich zu ihr um.

“Bald ist Alarm. Willste zurück rennen oder im Friedhof warten?” “Sie werden uns vermissen, wenn sie in den Unterstand gehn,” sagt Anna.
“Petzen die anderen Mädels?” fragt Ulli.
“Petzen nicht, aber sie könnten sich Gedanken machen,” sagt Anna.
“Dem wird Lotte abhelfen,” sagt Ulli und sie lachen.
Richtig, zwei Minuten später, beim Heulen der Sirenen, wird Lotte sagen,
“Macht euch nicht lächerlich. Anna kann auf sich selber aufpassen. Seid still.”
Ulli und Anna hatten inzwischen eine Steinbank im älteren Teil des Friedhofs entdeckt, und sassen da hinter einem grossen Grabstein verborgen, blickten zum Himmel auf. Irgendwo da oben waren bis zu tausend Flugzeuge unterwegs, flogen so hoch, dass man kaum die Motoren ausmachen konnte. Das hohe Sirren der Spitfires, und der tief grollende Ton der Wellington Bomber in den frühen Kriegsjahren, das waren die Engländer.
“Weisst du noch, am Anfang, 1941 oder 1942, als sie sieben oder acht Flieger rübergeschickt haben, die Bomben und Flugblätter abgeworfen haben? Mit Reimen und verzerrten Fotos von Goebbels?” sagt Anna.
“Nein, Flugblätter haben wir in der Innenstadt nie zu sehen gekriegt. Die wurden vor der Entwarnung aufgesammelt, sagte unser Hausmeister.”
“Ich hab mal welche im Wald gefunden, beim Blaubeeren pflücken. Sie waren vollkommen verregnet und verdreckt. Keine vernünftige Information,” sagt Anna, “aber ich war furchtbar aufgeregt. Hier war der Feind und wollte sich uns mitteilen…”
“Ja, vor allem aber warf er Bomben auf die ärmsten Stadtviertel, die Arbeiterwohnungen. Ist dir schonmal aufgefallen, dass euer Vorort hier praktisch unangetastet ist?” sagt Ulli.
“Wie kann uns das entgehen? Mein Vater sagt, sie werfen die Bomben dahin, wo sie den meisten Schaden anrichten, in der Stadt, die Wohnhäuser dicht beieinander und mit sechs Etagen-”
“-und du erwischst zehnmal so viele Zivilisten mit jeder Bombe,” sagt Ulli, sein Gesicht finster. Keinem von ihnen fiel ein, dass der Feind weit vorausgeplant hatte. Schliesslich musste er mit seinen Familien die nächsten zehn bis fünfzig Jahre hier irgendwo wohnen. Niemand hatte Lust, täglich rattenumlagerte Trümmerhaufen zu sehen, ob sie nun an stolze Siege erinnerten oder nicht.
Bei den Tagesangriffen spiegelte sich mitunter die Sonne im Metall der Bombenschächte von‘fliegenden Festungen’ und sandte plötzlich Strahlen von fürchterlicher Schönheit aus dem Himmel und zu den Kindern hinunter. Die wurden rasch in die Luftschutzkeller gescheucht, obwohl sie lieber auf die begehrten Flaksplitter warten wollten, die überall herabsausten, auch wenn die Bomben in anderen Stadtteilen fielen. Flaksplitter, wie ein aus dem Weltraum herabgestürztes Kleinod, wurden von allen Kindern früh am Morgen auf dem Schulweg aufgelesen, mit kühler Sachkenntnis bewertet und in Hosentaschen verwahrt. Während der Pause gab es dann Tauschgeschäfte, drei kleine gegen einen echt grossen.
In diesem Moment würde der Feind wieder Bomben auf Ullis alte Nachbarschaft werfen, und den Zoo, die grossen Fernbahnhöfe, die die Flüchtlingszüge nicht länger passieren konnten, auf Schulen, Kirchen und Krankenhäuser.
“Ich hab mal gelesen, dass Kriege grosse Umwälzungen mit sich bringen für eine Zivilisation, einen Neubeginn für bessere Zeiten, Hoffnung für die Menschen.”
“Na und stimmts? Nach 1914-18? Die Theorie stimmt doch nicht. Nicht bei mir. Und du glaubst auch nicht, was du gesagt hast. Du willst mich herausfordern. Ich hab so viel darüber nachgedacht. Es gibt keine Entschuldigung, einen Krieg anzuzetteln. Jeder Angreifer verdient zu verlieren.”
Sie beobachten die Scheinwerfer am Himmel, sie tanzen, suchen.
“Du redest wie ein Pazifist. Wenn dich einer hört-.”
“Ist mir egal. Ich bin dazu geworden. Zuerst, als ich gemerkt hab, dass ich meinen Glauben verloren hatte, sozusagen, da habe ich versucht, es meiner besten Freundin zu erklären. Wir schliefen im gleichen Zimmer. Mitten in der Nacht, als ich kapierte, dass die Worte kein Irrtum waren, sondern Lüge, absichtliche Lüge, um uns, um uns — da habe ich sie aufgeweckt.”
“Ssshhh, du schreist,” sagt Ulli, und es stimmt. Sie greift seinen Arm.
“Ist jemand da drüben? Bei diesem Schuppen da?”
“Ja, lass gut sein. Kümmer dich nicht drum; du hast ihn nicht gesehen,” sagt Ulli. “Was haben denn deine Eltern gesagt?”
“Meine Eltern? Du meinst doch nicht im Ernst, dass ich mit meinen Eltern darüber geredet habe!” sagt Anna. “Mein Vater war an der Front, und ich habe schon lange nichts Schlimmes zu meiner Mutter mehr gesagt. Sie kann es einfach nicht ab. Weint nur immerzu. Erzählst DU sowas etwa deinen Eltern?”
“Ich weiss nicht, ob ich’s tun würde. Sie sind tot. Mein Vater hat in Frankreich gekämpft. Aber ich weiss, ich könnte jedes und alles mit meiner Tante besprechen, der ich meine Gedichte schicke. Sie kümmert sich um meine kleinen Schwestern. Sie ist die Beste.”
“Oh Ulli! Ich wusste nicht, hatte nicht gehört, das du deine Eltern verloren hast. Ich-”
“Sie wohnt in der Nähe von Düsseldorf. Mein Onkel ist Krankenpfleger. Sie haben keine eigenen Kinder. Ich sollte auch dahin kommen, aber die HJ hat mich eingezogen.” “Wie haben die dich eigentlich in deiner Ruine gefunden? Die Post kann doch da gar nicht mehr -Ihr seid letzten Herbst ausgebombt worden, oder?”
“Oh, die finden dich. Kannst mir glauben, die finden jeden - aber ich war ja schon im Kriegseinsatz, schon erfasst.”
“Stimmt. So haben sie mich auch gefunden, aber ich wohnte schliesslich an meiner Adresse.” Sie blickten hinauf zum unschuldigen Himmel.
“Diese Tante, Ulli, meinst du sie könnte dir helfen, diese Bestimmtheit zu finden, diese, wovon du vorhin geredet hast?”
“Glaubst du echt, dass man das lernen kann? Sei mal ehrlich, ja? Ich weiss, sie und mein Onkel wissen genau, wer sie sind und was sie tun wollen. Und das dollste, meine jüngste Schwester, die ist mit einer Art Entschlossenheit auf die Welt gekommen. Sie sieht alles, weint nie - die hat eine innere Ordnung gleich immer gehabt.”
“Ein Glückskind. Kommt ihr miteinander aus?”
“Die meinen im Ernst ihr grosser Bruder ist eine Sensation. Die Erwartungen überwältigen einen manchmal.”
“Weisste Ulli, ich denke, wir kriegen Selbstbewusstsein indem wir älter werden. Die Dinge kommen doch irgendwie in die Reihe. Jedenfalls früher wars so. Wenn ich dir doch ein paar von unsern Büchern pumpen könnte. Das sind verbotene, auf der schwarzen Liste, die ich in der hinteren Reihe gefunden habe bei meinem Vater. An sich vorne alles Sachbücher, Texte mit Soziologie und so. Eine Zeitlang hatte ich gedacht, es wäre was ganz verkehrt mit mir im Kopf, als meine zwei besten Freundinnen nicht verstehen konnten, was ich da entdeckt hatte und was es bedeutet hat.
Ich hab mich total verlassen gefühlt, bis ich diese Bücher gefunden hab.
Eins ist von Erich Kästner, ein Roman, aber da sind auch Gedichte, so menschlich, weise und humorvoll. Seine Lebenseinstellung — als ich die gelesen hatte, war ich so erleichtert, weil ja schonmal jemand anders diese Gedanken und Gefühle gehegt hat und über Sachen redete, an die ich glauben wollte. Du musst diese Gedichte lesen, Ulli.”
Anna weiss zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass es Erich Kästner war, der 1933 im Trenchcoat und Hut stumm dabei stand, als die SA seine Bücher verbrannte. Das Pressefoto zeigt ihn mit den Händen in den Taschen. Sie weiss es noch nicht, und so kann sie Ulli nichts davon sagen.
“Hast du Theodor Körner gelesen?”
“Ja, ein bisschen, in der Schule, aber ich mach’ mir nicht viel aus seinen Ideen. ‘Das Volk steht auf, der Sturm bricht los, Männer und Burschen…’ diese ganze völkische Leidenschaft. Ich will davon loskommen.”
“Vielleicht kannst du mit den Zeitfragen nur nichts anfangen. 1813 oder so?”
“Ja, das ist schon möglich. Ich dachte, es war um 1848, nein?”
“Ja, kannst recht haben. Also, deine Eltern verstecken einen Haufen Bücher?”
“Naja, einige halt, und sogar Grammophonplatten. Übrigens, mein Vater hat auch Theodor Körner stehen. Die alten Soldaten lesen ihn viel, glaub ich. Und Fritz von Unruh. Und da war ein Roman vom Weltkrieg, “Im Westen nichts Neues,” von Erich Maria Remarqe. Es ist ein vernichtendes Buch. Mein Vater hat haufenweise Notizen an die Seite gekritzelt.”
“Was hat er gesagt?”
“Ich kann’s nicht lesen. Es ist alles Kurzschrift, die hat er als Student schon gelernt. Vielleicht wollte er nicht, dass neugierige Augen sehen, was er zu sagen hat. Vielleicht hätte es ihm Probleme gebracht, aber ich weiss nicht.
Was gefällt dir so gut an Körner?”
“Bin nicht sicher. Mag sein, dass mich die Zeilen an meinen Vater erinnern…”
Die Nacht ist schon eine Weile still geworden, die flackernden Lichtkreuze am Himmel erloschen. Bald kommt Entwarnung. Sie laufen an den Gräbern entlang, einige sind über dreissig Jahre alt mit riesigen Steinen.
“Wir haben keine Bücher mehr. Die Bomben haben alles erwischt, weisste.
Ich würde alles drum geben, wenn ich mit Papa über all die Sachen reden könnte die mir wichtig sind, wie’s in der Infantrie war, was er empfunden hat, als er in das Land seiner Vorfahren als Feind einmarschieren musste.”
“Du meinst, du meinst-”
“Einer meiner Ururgrossväter ist mit Napoleon nach Russland gezogen, und auf dem langen Marsch zurück ist er in Deutschland hängen geblieben. Wir glauben, er war schwer krank oder verwundet und sie haben ihn schliesslich in einem hessischen Dorf zurückgelassen, wo er dann geblieben ist.”
“Ist dein Vater in Frankreich beerdigt? Weisst du’s?”
“Ja, er liegt bei Nancy. Meine Tante hat die Papiere.”
“Als ich neulich gesehen habe, wie du losgelaufen bist, dachte ich du würdest dich vielleicht aus dem Staub machen. Ich glaube der Feldwebel hat dich auch gesehen, aber-”
“Der weiss Bescheid. Hat mich beim erstenmal gleich erwischt, hat gedacht, ich wollte desertieren oder sowas komisches, aber — versprich mir, dass du das niemandem weitererzählst?”
“Ehrenwort, Ulli.”
“Er wollte bloss wissen, ob ich mir überlegt hatte, was ich tu, ‘nen festen Plan hatte, sicheres Versteck und so, hat mir nicht gedroht oder was.”
“Mein Gott, das könnte ihn Kopf und Kragen kosten-”
“Ich weiss, aber er hielt sich eben noch zurück - sagte er hat einen vierzehnjährigen Sohn zu Hause.”
“Wir hatten schonmal drüber nachgedacht, über Kinder. Man merkt sofort, dass die andern nicht verheiratet sind, oder?”
“Ja, genau.”
“Und hast du jemals, irgendwann — du brauchst nicht zu antworten, Ulli.”
“Was redest du da für’n Quatsch. Meinen Vater verraten?”
Sie standen stumm beieinander nach diesen Worten, bis Entwarnung kam, der eine, langgezogene Ton, weniger nervend als das auf- und -nieder- jaulen der Alarmsirene, die anonyme Stimme der Autorität, wie die im Radio, der Lautsprecher auf dem Bahnsteig, und viel später, die Piloten, ‘wir kommen in eine Schlechtwetterzone. Bitte anschnallen.’ Einweginformation von oben.
Auf dem Rückweg hält Anna ein und dreht sich zu Ulli.
“Der Mann da im Friedhof. Er hat uns beobachtet. Er hatte grosse Angst, ist immer hin- und hergegangen.”
“Das ist er. Er versteckt sich vor jemandem, vielleicht vor allen. Nein, einer bringt ihm was zu essen. Neulich hab ich gesehen, wie er eine braune Tüte innen neben dem Eingangstor abgeholt hat.”
“Gehst du oft dahin?”
“Naja, ich geh halt gern hier herum. Es ist so friedlich und so heil alles. So ein sicherer Ort, wie aus einer anderen Zeit. Ich denke über die Leute hier nach, wer sie sind und was sie für sich nächstens erwarten.”
“Na, richtig sicher ist es natürlich nicht. Vor ein paar Wochen fiel eine einzige Bombe ganz in der Nähe vom Friedhof. Sie hat einen Teil vom Haus der Reichsjungmädelführerin zerstört. Aber sie war nicht zu Hause. Niemand soll da gewesen sein. Wir fühlen uns nicht wirklich sicher hier, und viele Leute haben Ausgebombte bei sich aufgenommen aus der Stadt.
Viele Leute hier haben kein Benzin mehr für ihr Auto. Die meisten haben genauso wenig zu essen wie alle andern. Oder sie sind überhaupt nicht mehr hier, haben sich irgendwie nach dem Westen abgesetzt, vor dem Russen getürmt. Aber ja, die meisten haben mehr Möglichkeiten, zu wählen, haben Verbindungen, mehr als die Menschen in der Stadt, am Wedding oder in Pankow oder so.”
“Tja, mehr Möglichkeiten sollte man haben.”
“Der Mann auf dem Friedhof. Ist es nicht entsetzlich, aus der Luft bombardiert und auch noch zu Land gejagt zu werden? Er muss sich doch dauernd fragen, wo SEINE Leute sind, seine Freunde.”
“Vielleicht hat er sie schon gefunden, da auf dem Friedhof, fühlt sich ihnen da nah. Und vielleicht hat er einfach ein Versteck gefunden. Jeder will schliesslich leben.” Sie laufen weiter.
“Ich hab mich immer gefragt, wie lange man eigentlich rumwarten muss, bis das Schicksal sich meldet, versteht du? Wo sich jemand findet, der mir sagt, wie’s eigentlich weitergeht: dies machen, das da weglassen. Zeit ist eine so gnadenlose Sache. Manchmal möchte ich sie einfach festhalten, sie zum Stillstehen bringen, in der Gegenwart bleiben, bis ich mit ihr fertig bin, ganz bereit. Weisst du was ich meine?”
“Ja,” sagt Anna, “ich glaube schon. Vor ein paar Wochen war ich einmal plötzlich so glücklich, einen Nachmittag und Abend lang, und da dachte ich: ‘komisch, du weisst, dass du glücklich bist. Bitte lass es noch anhalten. Lass es nicht einfach zerflattern. Lass es mich festhalten.’ Ist das was du meintest?”
“Ja schon, sowas Ähnliches.”