Anna lag wach auf dem Bett und dachte nach über Tatjana, ihren Soldatenbruder und Ukrainischen Freunde in Deutschland. Was würde mit ihnen geschehen? Hätte Deutschland den Krieg gewonnen, wären sie in die “Freie und Unabhängige Ukraine” zurückgekehrt. Das hatte der Führer dem General Wlassow als Gegenleistung für militärische Unterstützung einer ganzen Armee ukrainischer Freiwilliger versprochen, der sog. Wlassow- Armee. Sollte das immer noch Unvorstellbare sich ereignen und die Soviets gewinnen, dann wäre die ganze Armee ukrainischer Patrioten verloren. Und was würde Tatjanas Freund, Igor, wohl für sie tun können, ein Kriegsgefangener in einer Munitionsfabrik im Berliner Norden?
Tatjanas Familie war immer unter den Verlierern, schon als sie elf Jahre alt war und ihr Vater als Mitglied einer ukrainischen ‘Separatistenclique’ nach Sibirien verschleppt wurde. Sie hatten nie wieder von ihm gehört, zwölf Jahre lang gewartet.
Tatjana schien ewig verängstigt, stand immer mit hohen Schultern da, wie jemand der auf weitere Schicksalsschläge gefasst ist.
Feige war sie nicht. Als Anna ihr einmal erklärte, sie würde so gern versuchen, Tatjana ins Kino zu schmuggeln, und sie endlich kapierte, worum es ging, da hatte sich ein verwegenes, konspiratives Lächeln um die Augen gezeigt.
So gingen sie denn los, Anna in ihrem Lodenmantel und Tatjana in Mutters gutem Wollumhang, das Haar hochgesteckt in einem kriegsbedingt schütteren Chignon, mit Haarnadeln abgestützt. Anna hatte vorher noch mit ihr geübt, wie sie locker schreiten, unbekümmert aussehen und entspannt wirken sollte. Zunächst war alles gut gegangen. Von der völligen Dunkelheit geschützt, waren sie unbehelligt am Capitol Kino angekommen, wo Tatjana sich richtig unbekümmert unter den Menschen bewegte. Das Plakat an der Wand zeigte einen grinsenden Hans Albers.
Anna stand nach Karten an, und sobald sie drin waren, schob sie Tatjana mitten in eine Sitzreihe, weit vom Gang. Das sollte sich als Fehler erweisen. Während der Wochenschau, die deutsche Truppen beim mühseligen Bewegen von Kriegsgerät und Geländewagen in Russlands Matsch und Schnee zeigte, mit dem Blitzen von Artilleriefeuer am Horizont, sah Tatjana aufmerksam zu. Ein Platzanweiser kam den Gang hinunter, die Taschenlampe kreiste, und Anna wurde heiss. Sie rührten sich nicht. Aber er half nur einem Nachzügler zu seinem Platz. Ihr Erleichterungsseufzer war jedoch verfrüht, denn bald darauf kreisten zwei Kegel von Taschenlampen von beiden Seitengängen her und blieben auf Tatjanas Gesicht ruhen. Anna hatte zu Hause vorgemacht, mit beiden Händen am Kopf vor und zurückfahrend, wie sie beide stur nach vorn blicken wollten.
Aber angesichts dieser Lage verlor Tatjana die Nerven und rief laut und beschwörend “Nijchts! Nijchts,” und im Handumdrehen fanden sich beide draussen vor dem Kino, zitternd und mit hämmerndem Herzen. Anna hörte vernichtende Beleidigungen hinter sich, sie, die sich unterstanden hatte, diese unglaubliche Unverschämtheit auszuhecken.
Sie flüchteten, liefen rasch und schluchzend nebeneinander nach Hause, Tatjana enttäuscht und erniedrigt, Anna ausser sich vor Zorn und überwältigt von Schuldgefühlen. Bevor sie die Haustür erreichten, nahm Tatjana Annas Hand und streichelte sie ganz sachte.