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Kartoffeln Setzen und Nachdenken

Nach dem Besuch der jungen Frau, welche die umliegenden, von der FLAK Stellung zerkratzten Felder mit verwaltete, verkündete der Leutnant, die Jungen würden innerhalb ihres Kriegsdienstes nun auch Kartoffeln setzen. Richtig kam auch alsbald ein Eselskarren, begleitet von einem fröhlichen Belgier in braunem Drilligzeug. Er demonstrierte wie die grässlich schrumpligen, in Stücke zerteilten Kartoffeln in der frühlingswarmen Erde unterzubringen seien. Unerschrocken ging er wenige Meter jenseits der Einfahrt mit einem Spaten ans Werk. Die meisten Jungen nickten und lächelten.

“Bei Tageslicht würde ich die Arbeit allerdings vermeiden,” sagte der Belgier in gutem Deutsch, und in Richtung Leutnant. “Sie wissen, unsere amerikanischen Freunde.” Dieser hatte freilich bisher vermieden, von den Überraschungsangriffen amerikanischer Jagdflieger zu berichten, die neuerdings einzeln durch die Wolkendecke stiessen und Bauern auf den Feldern und Landstrassen mit ihren Bordwaffen beharkten. Annas Blick ruhte auf dem belgischen Rücken. Meinte er das ironisch? Waren sie etwa nicht seine Freunde? Mit einem Klaps auf die Eselsflanke verabschiedete sich der Mann. Und der Leutnant sagte doch tatsächlich “Heil Hitler”.

Ede sass auf einem umgestülpten Eimer vor der Küche und reinigte sich die Nägel mit dem Taschenmesser. Er schüttelte den Kopf.

“Der Mann muss immer so auffallen,” sagte er, “jeder merkts wenn er damit aufhört!”

“Womit aufhört?” fragte Motz.

“Na wenn er plötzlich ‘Ciao’ sagt oder ‘Servus’, aber ich werde keinen Schlaf darüber verlieren.”

“Na gottlob,” sagte Motz, “warum sich auch Sorgen machen.”

Die Kartoffelstücke in den VÖLKISCHEN BEOBACHTER eingeschlagen, zogen die Jungen nach dem Abendesssen ein zweites Mal aus. Als sie eine dreiviertel Stunde später zurückkehrten, erwartete sie der Fremdarbeiter schon mit einer weiteren Ladung und einer ernsten Mahnung.

“Frau Göttke hat mir aufgetragen, euch zu sagen, dass die Saatkartoffeln mit einem chemischen Schutzmittel behandelt werden. Sie ist die Chefin und ich bin ganz sicher, sie sagt immer die Wahrheit.” Er zwinkerte ihnen zu und verschwand.

Hansi eilte in den Waschraum, steckte sich den Finger in den Hals und meldete sich blass, aber freundlich wie immer, zurück.

Lilly fand zwei Brotkrusten im grauen Säckchen hinter der Küchentür für ihn.

War er doch immer hungrig, immer schläfrig, und beim Singen formte er meist nur die Worte mit den Lippen, sein Stimmwechsel ein Modellfall.

“Wenn ihr Hilfe in der Küche braucht, ruft mich einfach,” pflegte er täglich zu sagen, mehr Leberwurst-motiviert als auf den Spuren der weiblichen Seele.

Aber während der dunklen Nachtstunden im Unterstand legten sich immer schwesterlich tröstende Arme um seine Schultern.

“Hansi, lass von Monikas Busen ab,” rief dann wohl eine Stimme und Hansi kicherte unschuldig, aber enorm stolz bei der undenkbaren Vorstellung.

“Wollt ihr wohl ma’ aufhörn, unsan Hansi am Koppelschloss zu ziepen!”

Und natürlich stimmte jemand an mit, “Haben Sie schonmal im Dunkeln geküsst?”

Worauf sich immer die Gleichen laut mit “Ja!” meldeten.“Wir sind grad’ allein - kommen Sie nur in meine Näh’. Nur nicht ängstlich sein, denn es tut bestimmt nicht weh,” flötete Motz.

“Huch, die Künnecke, die könnt’ich stundenlang abknutschen,” sagte Gustav.

Philosophie am Morgen

Als Anna und Monika am nächsten Morgen mit einem Korb Brot vorbeikamen, ragten Füsse aus einer der leeren Tonnen am Rand der Latrinen.

“Was machst du denn da?” erkundigte sich Monika, an die Füsse gewendet. “Sei still,” kam eine bekannte Stimme, “ich beschäftige mich mit der Zukunft…”

“Wessen Zukunft?” fragte Anna und wackelte an den Schuhen.

“Na die Zukunft des Planeten, dieses Vogels, meine - kannst dir’s aussuchen.”

“Und welche Erleuchtungen sind dir in der Tonne gekommen?”

“Ha! Die IDEE der Zukunft stimmt schon nicht. Eine Illusion, Fata Morgana, ein Mythos, wenn ihr wollt, und ein Riesenschummel. Es gibt sie gar nicht. Wir alle leben vielmehr in der Vergangenheit, ein Umstand der mit Hilfe wechselnder Mode vertuscht wird, und das Propagandaministerium steckt wieder dahinter.” Er arbeitete sich aus der Tonne und schüttelte sich.

“Philosophie stinkt nach Hering. Und jetzt muss ich mein Rad in Ordnung bringen und mal wieder den anderen folgen. Wir bauen ja den letzten Schrei im Panzergrabenstil. Sensation. Wartet mal ab, bis die Russen das sehn. Heil Hitler!” Und Motz nahm sein Rad und verschwand.

Anna konnte sich nicht entsinnen, die ersten Apriltage je so warm erlebt zu haben. Weidenkätzchen blühten am Sandweg und die Vögel trillerten das ewige Lied von der Hoffnung in dem einen grotesk verwachsenen Baum am Ende der nahen Mulde. Hier trafen sich einzelne zu einem Privatgespräch, oder rauchten auch, ausser den Obergefreiten, deren ‘Geheimversteck’ hinter dem Küchenschuppen lag. Der Leutnant machte natürlich einfach die Tür zu wenn er Ruhe haben wollte.

Anna kniete allein in der Küche und holte die Asche aus der Feuerstelle, als sie Stimmen durch die undichten Fenster vernahm.

“Schmitt hat heute morgen alle Stecknadeln von der Karte entfernt.”

“Na sag mal, ist denn das drin?”

“Ivan steht an der Oder und da hören wir ihn hier fast schon pfeifen, wie? Wer soll’n den noch aufhalten?”

“Kuck MICH nich an. Du weisst genau so gut wie ich, dass die Jungens niemanden auch nur fünf Minuten festnageln. Wer soll ihnen denn die Flanke sichern? Ihre Opas?”

“So ist es. Gestern, im Hauptquartier, das letzte, aber auch allerletzte Aufgebot rollt an.”

“Nördlich von hier soll’n wir ’ne Eliteeinheit hinkriegen. Die kämpfen ja wie die Löwen.”

“Ach, die armen Schweine.”

Da kam Lilly in die Küche. Die Tür knallte hinter ihr ins Schloss, und die Stimmen entfernten sich.

“Wie siehst du denn aus,” sagte sie, “so als hättest du ‘n Gespenst gesehen.”

“Ja,” sagte Anna, “nen Poltergeist.”

So, und das is der T34

Heute hat es den ganzen Nachmittag geregnet. Lotte schielt in den Gemeinschaftsraum auf Suche nach Helfern. Aber die Schulung ist noch nicht abgeschlossen. Der Leutnant zeigt eine Tafel mit dem technischen Profil des Soviet Panzers T34.

Mit einem Zeigestock deutet er auf die Zielflächen, die Unterseite, Ketten und den Turm.

“Ihr wisst ja,” sagt er in beschwörendem Ton, “dass wir sie sehen und hören, lange bevor sie uns bemerken. Drum lassen wir sie ganz langsam nah herankommen. Nicht zu früh feuern, oder wir verlieren unsere, unsere —” Ulli sieht, wie der Feldwebel die Augen verdreht.

“Unsere einzige Chance,” beendet Axel den Satz. Der Leutnant zieht eine Grimasse.

“- unsere Deckung,” sagt er.

Gustav dreht sich zu Lotte. “Was ist?”

“Wir brauchen jemand mit’m Schwanz,” krächzt die laut. “Der Kessel wiegt ’n Zentner.”

Hansi meldet sich zu Wort.

“Was, wenn sie gar nicht mit Panzern kommen? Wenn sie mit hunderttausend Pferden rangaloppieren? Ich könnte nie auf ein Pferd schiessen!”

“Neinein, keine Pferde. Sie rücken mit ihrer 19. Panzer Gardedivision an, das ist Tatsache, und wir sagen, ‘BIS HIERHER UND NICHT WEITER’,” ruft der Leutnant, und es klingt wie beim Ballett.

“Na denn, Heil Hitler,” lässt sich Ede vernehmen.

“Wie wär’s wenn wir einfach auf breiter Front ranradeln und sie mit unserem Faconschnitt verwirren,” schlägt Motz leise vor. “Ich hab’s schwarz auf weiss, dass die durchweg Platte tragen.”

“Was machen wir, wenn die Panzerfäuste alle sind?” meldet sich Gustav und reibt wie immer seine Handflächen an den Hosenbeinen.

“Du meinst, FALLS sie uns ausgehen,” korrigiert der Leutnant. “Die Lage wird nicht eintreten. Es werden genügend Vorräte in Schlüsselpositionen bereitgestellt, zu denen im Notfall alle Zugang haben. Wir kommen noch darauf zurück. Das wärs.”

Die Stühle schweben über ihren Köpfen, die Tische rutschen zur Mitte, und Lottes Küchenhelfer schieben sich aus der Tür.