Mit umgeschnalltem Rucksack stemmen sich Lilly und Anna gegen den Märzwind, der ihnen auf dem Feldweg entgegenbläst. Sie laufen hinter einem Wehrmachtslaster und bleiben beiseite, um einen zweiten vorbei zu lassen.
“Was ist das eigentlich, wo wir hin müssen, ein Bunker?” fragt Lilly.
“Ich weiss auch nicht, sie haben sich nicht klar ausgedrückt,” sagt Anna, “nur, dass wir uns bei einem Leutnant Schmitt melden sollen. Doppel - t.”
“Aber ich wundere mich schon, dass wir Schlafanzug, Uniformblusen zum wechseln, Kochgeschirr mitbringen sollten. Wie lange wollen die uns denn hier behalten, ’ne Woche?”

Anna lacht.
“Ach, da ist es. Siehst du die Dächer?” Sie waren etwa einen Kilometer über die braunen Felder gelaufen, nördlich ihres vom Krieg fast noch verschonten Vorortes.
Als sie die frühere FLAK-Stellung erreichen, sehen sie die Baracken.
Schrubber schwemmen ganze Wellen von Schmutzwasser aus den Türen, gefolgt von Soldaten in Drillichzeug. Zerbrochene Fensterscheiben werden durch Bretter ersetzt, Spinde gegen Innenwände geschoben, und aus dem Schornstein einer der Baracken kräuselt Rauch.
Leutnant Schmitt, ein Sopran in FLAK-Uniform und blankpolierten Stiefeln, führt das Wort. Irritiert, nur zwei Mädel vor sich zu haben, will er wissen, wo die anderen seien.
“Welche anderen,” fragt Anna zurück, “wir wissen ja nichtmal, wozu wir hier sind.”
“Ihr gehört doch zum Kriegseinsatz, oder?”
“Ja, aber—”
“Könnt ihr kochen, eine Küche organisieren, Feuer machen, Rationen einteilen?”
Die beiden folgen ihm in einen Schuppen mit klemmender Tür und stehen einem riesigen Feuerkessel gegenüber, einer Gulaschkanone, daneben ein fettiger Tisch mit Schubladen voller Messer, Spiesse, Kellen, alle in unappetitlichem Zustand. Es gibt keine Töpfe, Schüsseln oder Pfannen. Dafür Spinnweben an der Decke.
“Wir haben Licht hier drin, aber keinen Herd und kein Gas,” meint der Leutnant, “aber Suppe wird täglich von der Zentralküche geliefert.”
“Wie? Wie lange werden wir denn hier gebraucht?” fragt Anna.
“Und was ist hier los?” will Lilly wissen.
“Ach, hat man euch nicht informiert? Bis auf weiteres. Die Jungens kommen morgen.”
“Was für Jungens?” fragt Lilly wieder.
“Dies wird ein Schulungslager für Volkssturm-HJ. Euer Quartier ist in der Baracke mit dem Gemeinschaftsraum, wo wir auch essen und Unterricht abhalten!”
“Wieviele werden’s insgesamt,” fragt Anna, aber der Leutnant ist auf dem Weg zum Telefon. Der Feldwebel hat einige Feldsäcke aus dem Kübelwagen geholt und stellt sich ihnen nun vor. Mit faltigem Gesicht, ernsten Augen und sehnigen Armen hat er auch die Gesten eines älteren Mannes.
“Ich bin der Feldwebel,” sagt er und geht eine Liste durch.“Ihr seid Waltraud, Monika?”
“Nein, wir sind Anna und Lilly,” sagt Lilly. “Könnten Sie uns wohl bitte aufklären, wie das hier laufen soll? Der Leutnant —”
“Das ist ja meine Aufgabe,” unterbricht er sie. “Ihr sollt hundertachtunddreissig Hitlerjungen versorgen, vier Wehrmachtsangehörige und euch selbst. Wir erwarten noch sechs Mädel.”
“Na, dann sollten wir gleich mal anfangen, ein Inventar aufzustellen,” sagt Anna und holt tief Luft, “Oder haben Sie eins? Im Moment sieht die Küche ziemlich trostlos aus.”
“Ja, wir haben keine Kühlanlage,” sagt der Feldwebel, “aber der ‘Versorgungsdampfer’ kommt jeden Tag.”
“Feuerholz, auch Kleinholz oder Reisig, – bisher sind bloss drei Eimer und ein paar Messer in der Küche,” sagt Lilly.
Eine Liste von Bestellungen für ihr Quartier, den Gemeinschaftsraum und die Küche sind bereits komplett, als drei weitere Mädel heranstapfen. Strohsäcke und Wolldecken sind auf den doppelstöckigen Betten verteilt, wenn auch noch Kopfkissen fehlen. Ihr Raum ist sauber, der muffige Geruch würde durch die offenen Fenster allmählich verfliegen. Anna und Lilly legen ihre Rucksäcke auf zwei untere Betten und sehen sich an. Sie würden jeden Morgen ein heisses Getränk für die Belegschaft kochen müssen, und zwar in dem Riesenkessel, und die Frühstücksrationen abmessen und ausgeben, und dann würden die Mädel Brot, Wurst und Margarine fertigmachen, die Mittagsmahlzeit der Jungen, die sie um acht Uhr bei Abfahrt zum täglichen Dienst fassen mussten. Danach würden sie selbst frühstücken, den Küchenschuppen reinigen und alles für die Ankunft des Versorgungslasters bereitmachen. Nun ja, man würde sehen.
Emmas Gesicht ist ihnen nicht nur aus der Oberschule bekannt, (jetzt längst geschlossen, wie alle Berliner Schulen), sondern auch von den Wochen und Monaten des Bombeneinsatzes in der Innenstadt. Jeder kannte Emma. Kameradschaft als Hauptprinzip ihrer Weltanschauung – es ist gut, sie hier dabei zu haben, mit ihren kleinen kräftigen Händen und ihrem stillen ironischen Lächeln. Sie hat wieder aufgesprungene Lippen.
Emma wählt eine der oberen Kojen, der besseren Höhenluft wegen, wie sie sagt.
Monikas Gesicht besteht fast völlig aus langen, schwarzen Wimpern. Es gelingt ihr nicht gleich, ihre Überraschung in Worte zu fassen, dass sie hier in diesem, diesem ORT gelandet ist, und so verschiebt sie den Versuch auf später. Zu jedermanns Erstaunen trägt einer der eben entschwindenden Reinigunsmannschaft ihre Reisetasche hinter ihr her und setzt sie auf ein Bett. Monika nimmt keinerlei Notiz.
Da erscheint Lotte, blickt sich um, moniert das Quietschen der Tür und macht sich sofort daran, dem Abhilfe zu schaffen. Mit dieser Antrittstat ist sie als Ölkanne schlechthin etabliert.
“Ich habe vier ältere Brüder,” gibt sie erklärend bekannt. “Ich kenne mich aus.”
Als nächstes kommt Walla, blond und dünn, die sich augenblicklich daran macht, mit eigens mitgeführten Reisszwecken Fotos ihrer vierjährigen Zwillingsbrüder über ihrem Bett zu befestigen.
“Du hast dich gleich auf einen schönen, langen Besuch eingerichtet,” sagt Emma.
“Mitnichten,” sagt Walla, “ohne die Zwillinge verlasse ich nicht das Haus.” Sie hat auch vorsorglich einen Kissenbezug mitgebracht und bringt dem Feldwebel zur Kenntnis, dass es nichts zum Ausfüllen gebe. Er macht den gutmütigen Vorschlag, fürs erste einen Pullover zu nehmen.
Als die Fenster geschlossen werden, merken die Mädel, dass sie ohne Tageslicht auskommen müssen, da man die Bretter nicht entfernen kann. Aber die Birne unter der Decke ist intakt, und sie werden hier nicht viel Zeit verbringen.
Die Tür führt in den Gemeinschaftsraum, mit Tischen und Stühlen. Am gegenüberliegenden Ende der Baracke befindet sich das Allerheiligste, ein kleines Büro mit Schreibtisch, Stuhl, Telefon, einem Aktenschrank – und einem Feldbett, auf dem der Leutnant schläft.
Der Gemeinschaftsraum erfreut sie auch mit dem Anblick eines frisch geschwärzten Bullerofens sowie eines Rundfunkgeräts Marke Blaupunkt.
“Wir brauchen Feuerholz und Reisig,” sagt Lilly zum dritten Mal, “sonst bekommt hier keiner etwas Warmes. Es wäre grossartig, wenn wir einen Wasserkessel für diesen Ofen hätten, und könnten wir wohl Briketts kriegen?”
“Wir tun unser Bestes,” sagt der Feldwebel abwesend. Zwei schlechtgelaunte Obergefreite kommen herein, aber dann fällt ihr Blick auf Monika.
“Der Obergefreite Peters und der Obergefreite Albers, unser Sanitäter,” stellt der Leutnant vor, und dann liest er höflich die Namen der Mädel von der Liste ab.
“Wir erwarten noch zwei.”
LKWs fahren den ganzen Tag hin und her, beladen mit Fahrrädern, Spaten, Körben, Kisten und Kartons mit Lebensmitteln und anderem. Munition würde für den Abend erwartet und in einem Spezialschuppen unter Verschluss gehalten werden.
Lotte nimmt sich eines der Räder, fährt in Richtung des nahen Waldes davon und kehrt im Triumph zurück, den Gepäckständer voller Trockenholz und Ästen, die sie mit ihrem Gürtel befestigt hat.
Anna steht auf der Türschwelle zum Büro, wo der Leutnant fast den ganzen Tag am Telefon beschäftigt war.
“Wie behelfen wir uns denn heute abend?” fragt sie.
“Sie schicken einen Suppenkessel,” sagt er und legt endlich den Hörer auf, er und sein Büro blitzblank und ordentlich.
Es ist eine ungemütliche Runde, die sich später im Gemeinschaftsraum versammelt und Hühnersuppe mit Bandnudeln löffelt, dazu Kommissbrot.
Zu ihrer Überraschung haben sie auch Zigaretten erhalten, aber auf Befehl des Leutnants darf nur im Freien geraucht werden.
“Ich möchte bloss mal wissen, wo die hundertachtunddreissig Jungens aufgetrieben haben, die nicht schon im Kriegseinsatz erfasst sind,” murmelt Emma, aber der Leutnant hat gute Ohren.
“Ungefär fünfundzwanzig stammen aus Einheiten wie eurer, nur vor allem aus der Berliner Innenstadt. Die meisten kommen aus Ostflüchtlingslagern. Die haben da Jungens aufgefangen, die auf den Trecks von ihren Eltern getrennt wurden, aber noch zu jung sind fürs Militar.” (Auf höheren Befehl und angesichts der schwindenden Kampfkraft haben die Wehrmacht und die SS gelegentlich bei der Trennung der Familien nachgeholfen und schon Vierzehnjährige, die ohne Papiere gen Westen flüchteten, in Auffanglagern festgehalten.) Aber das behält der Leutnant für sich, falls er’s weiss.
Der Leutnant steht mit weitgespreizten Beinen, als ob er auf das Trocknen einer zu früh von der Leine genommenen Unterhose warte.
“Der Wehrmachtsbericht,” sagt der Feldwebel und stellt das Radio an. Stumm stehen sie im Halbkreis.
“Ohne Rücksicht auf Verluste an Menschen und Material haben deutsche Truppen wichtige Schlüsselstellungen an der Ostfront zurückerobert und die Verteidigungslinien verkürzt.” Sie lügen noch immer, aber können nicht länger ganz so grotesk lügen. Zu viele Flüchtlinge haben sich in den Westen durchgeschlagen und die Wahrheit berichtet. Der Russe steht an der Oder oder hat sie womöglich bereits überschritten.
Das Radio wird ausgeschaltet. Niemand sagt ein Wort über das eben Gehörte, nicht nur des Leutnants verschlossenen Gesichts halber, sondern wegen des längst bekannten Tabus, - “es” nicht auszusprechen. Das Unvorstellbare in Worte zu fassen, wäre defaitistisch. Aber der Gruss ‘Heil Hitler’ ist inzwischen längst dem lakonischen ‘bleib übrig’ gewichen.
“Ohne Rücksicht auf Verluste an Menschen und Material –” wie lange hat diese fürchterliche Formulierung schon die Menschen mit Angst und Entsetzen erfüllt? Zu lange für Eltern, Frauen, Kinder, Geschwister, Freunde und Kollegen.
Monika lauscht dem Sanitäter, einem Ostfrontkämpfer, der bei Stalingrad just vor der letzten Kesselschlacht verwundet und zurücktransportiert wurde.
Am späten Nachmittag hat man ihnen den spärlichen Splittergraben für Fliegeralarm gezeigt, eben ausserhalb der Baracken. Es würde niemandem gestattet, bei Alarm drinnen zu bleiben.
“Kein Licht bei Alarm! Merkt euch den Weg zum Ausgang, behaltet Jacken und Stiefel am Bett,” ermahnt der Leutnant sie. Und das ist das Ende des Abendprogramms.
“Wo meint er, dass wir die letzten Jahre verbracht haben, auf dem Mond?” sagt Lilly.
“Denkt nichtmal im Traum daran, euch heimlich davonzumachen. Draussen steht einer Wache,” sagt Lotte. Sie lachen, liegen in Uniform auf den Betten, wollen lieber den Alarm abwarten und sich nachher erst ausziehen.
“Der Feldwebel kam heute in die Küche und sagte Bescheid, dass das Telefon über die Zentrale beim Hauptquartier läuft. Die müssen uns also verbinden und können mithören,” sagt Lilly.
“Das hatten wir uns schon gedacht,” sagt Walla. “Aber trotzdem nett von ihm.”
Als sie grade eingeschlafen sind, jaulen die Sirenen.
Die Jungen, die in kleinen Gruppen über das Feld herankamen, hatten die U-Bahn und den Doppeldecker genommen. Der Grösste unter ihnen strich sich die schwarzen Haare aus der Stirn und rief,
“Wo ihr Mädchen schon hier seid und das Vaterland verteidigt, sehe ich gar nicht ein, was sie noch von UNS wollen.” Er betrachtete Lilly, Anna und Lotte mit halb geschlossenen Augen aus der Höhe von 1.84 m.
“Ich bin Motz, und der blonde Prinz hier heisst Ede. Diese anderen minderwertigen Typen haben noch keine Namen, aber das wird sich alles ändern. Vorläufig einfach pfeifen, und sie kommen angewetzt.” Ede demonstrierte dies sogleich und vier der anderen rannten eifrig vor und grüssten ehrerbietig, Hand an der Mütze.
“Also ich muss schon sagen, wer hat eigentlich diese gottverlassene Stellung ausgesucht?
Sind das Bäume da drüben? Bei uns um die Ecke haben wir diesen sensationellen Humboldthain -Bunker – Klassiker-Stil, aus Beton allerdings. Wir haben ja sofort eine eigene Verteidigungsstrategie angeboten, aber’s Hauptquartier weiss ja immer alles besser.” Einer der Jungen kam vor.
“Ich müsste dringend mal pinkeln. Gibt es hier ein Häuschen mit Herz in der Tür, oder-?”
Lilly zeigte in Richtung Latrinen und Anna lachte.
Die Jungen trugen HJ-Uniform mit einer schmalen weissen Binde am linken Oberarm, der sie als Volkssturm auswies. Bald würden sie bewaffnet sein, waren hier für einen Schnellkursus in Deckung- nehmen und Scharfschiessen.
Sie liessen ihre Tournister gleich an der Tür der Baracke I, öffneten alle Fenster und begannen sofort, Zimmerdecke, Fussböden und Strohsäcke rigoros zu untersuchen.
“Was macht ihr denn da?” fragte Anna von der Tür her.
“Wanzen,” erläuterte Ede, “aber es gibt hier keine.”
“Was meinst du mit ‘Wanzen’?”
“Wir lieben alle Geschöpfe des Herrn, – trotzdem möchten wir nicht morgen verschwollen und zerstochen aufwachen.”
“Sind Wanzen nicht winzig klein? Wie könnt ihr die denn finden?” fragte Anna.
Ede und Motz blickten sich an und sahen dann entgeistert in die Runde.
“Habt ihr das gehört?? Wo um Himmels willen haben sie dieses Blümchen aufgetrieben.” Laut sagten sie,
“Na, genau genommen sind die Dinger reichlich gross.” Ede prüfte seine Daumennägel auf der Suche nach einem geeigneten Beispiel.
“Du meinst wie Mistkäfer?” fragte Anna ungläubig.
“Was sind bitte Mistkäfer?” fragte Motz mit vorsorglich geschlossenen Augen.
“Klingt sagenhaft unappetitlich.”
“Du kennst doch Mistkäfer,” sagt Anna rasch. “Diese blau-schwarzen blanken Dinger, die in den Parks und Wäldern den Pferdemist und Hundedreck wegmachen?”
“Gibs zu, Ede, wir sind ihnen noch nie begegnet. Ich moniere das. Sind die essbar?”
“Mich interessiert nur eins,” sagte Ede. “Habt ihr Mädels hier Hunde oder Pferde aufbewahrt?”
“Wir hatten noch keine Gelegenheit,” sagte Anna.
“Die lassen sich im Dunkeln von der Decke fallen,” sagte Ede drohend.
“Wie bitte? WER?” fragte Lilly von der Schwelle her.
“Ede! Hör auf, die Damen zu verschrecken. Er hat’s wieder mit den Wanzen, meinte das Thema sei nicht annähernd erschöpft. Als ich ein Kleinkind war, blieb unsere Wohnung und die ganze Nachbarschaft nachts immer erleuchtet. Wanzen sind Nachtarbeiter, – aber bei Lampenlicht bleiben die weg.”
“Als unser geliebter Führer die Macht übernahm, hat er auch gleich die Wanzenplage mit beseitigt,” Ede klang wie ein Museumswächter, “persönlich.”
“Also wir entscheiden uns für dieses Zimmer,” sagte Motz und prüfte die Aussicht auf den Erdwall, hundert Meter entfernt.
“Sechzehn Betten hier,” sagte Anna, “und zwölf nebenan.”
“Gibt’s hier eigentlich auch sowas wie Vorgesetzte?” wollte ein anderer Junge wissen.
“Sie sind heute Vormittag in den Wald gefahren,” sagte Lilly. “Sie müssen bald zurück sein.”
“Vielversprechend, der Anfang. Wir paar Männekens latschen hier über die Felder und denken an nichts Böses, und der ganze Stab flieht in die Wälder,” sagte Motz.
“Ja, also wenn es nicht zu viel Mühe macht, würden wir die Herren dann ins Büro bitten, einzeln, mit Ausweis.” Es war der Leutnant, der hinter Lilly in die Tür getreten war, nicht eben bei bester Laune.
“Na endlich, richtig zackig,” flüsterte Ede.
Später standen sie dann um den Rundfunkapparat geschart und hörten Nachrichten, als draussen die Laster heranfuhren und Türen schlugen. Anna, Lilly und der Feldwebel liefen hinaus, Lotte und Emma hinterher. In der Dämmerung sahen sie müde, stille Jungen herunterklettern, beladen mit Feldsäcken und Kochgeschirr, Rationen, und eingekleidet wie Kraut und Rüben mit schlecht sitzenden Teilen.
Der Feldwebel liess sie in Dreierreihen antreten und zählte einhundert und neun Jungen.
“Was ist los? Habt ihr einen verkauft?” rief er dem nächsten Fahrer zu, der schon anfuhr.
“Nicht, dass ich wüsste -” aber ihre Suche förderte rasch einen schmalen Jungen mit rosig verschlafenen Backen zutage, der entschuldigend lächelte.
Der Feldwebel streckte ihm die Hand entgegen und half ihm herunter.
“Wie alt bist’n Du?”
“Was ist heute für ein Datum?”
“Der fünfundzwanzigste März.”
“Beinah vierzehn.”
Die Neuen hatten kaum ihre Säcke in den Baracken verstaut, als die Sirenen heulten.
“Weisste was?” sagte Ede beim Marsch in den Graben unüberzeugt, “ich werde Kettenraucher. Wenn ich mich anstrenge, schaffe ich es sicher, Schwindsucht zu kriegen. Wie Garbo in der Kameliendame. Nein, so romantisch…” Motz murmelte in sein Ohr.
“Ede, alter Kumpel aus Kindergartenkampftagen. Streng dein Hirn an. Soweit ich weiss, kommt TBC nicht vom Rauchen. Eher Schweissfüsse, Ohrensausen und Pickel. Sei stark, pflege deinen prima Körper fürs Vaterland. Und noch was, ich muss mir die Klage anhören, wenn Dir die Stengel ausgehen,.” Ede stellte sich dicht vor Motz auf.
“Wie deine Schwester?”
“Du sagst es überdeutlich.”
“Bittebitte?”
“Neiiiieeeennnn!”
“Du würdest nicht deine Zuteilung mit Ede teilen?”
“Verlass dich drauf. Mach’n Tausch, wie die andern.”
Eine Stunde später, als Entwarnung gegeben wurde, standen sie zitternd und stumm angesichts des feuerroten Horizonts über Berlin, und wortlos gingen sie in die Baracken zurück.
Nur die Obergefreiten blieben draussen und rauchten hinter der Küche.
Als der Feldwebel zum Wecken blies, hatten die Mädel schon anderthalb Stunden mit dem eigensinnigen Feuer gekämpft, aber endlich doch den begehrten Muckefuck gekocht und Brote und Marmelade aufgeteilt.
Zum Fahnenappell erschien ein bunter Haufen. Im Morgengrauen sah es zunächst so aus, als hätten die Jungen das Anziehen vergessen, obschon ein Versuch gemacht worden war, sie alle wenigstens mit einer Uniformjacke zu versehen. Einer hatte sich Zeitungspapier in riesige Skistiefel gestopft, aber es fehlte ein Schnürsenkel, und so schlurfte er fürs erste. Vielen fehlte die Mütze.
Die Obergefreiten stellten fest, dass keiner der neuen Rekruten je eine Waffe in der Hand gehabt hatte, und sieben mussten zudem zurückgelassen werden, um das Fahrrad fahren zu üben. Die übrigen radelten in Richtung Wald davon. Als sie weg waren, kamen Lotte und Emma aus der Küche. Auf dem geraden Sandweg hielten sie die Sättel fest.
“So, Lenkstange fest halten und dann trampeln wie verrückt, oder ihr fallt um.”
Die nächsten drei Stunden lang trampelten die Jungen und fielen auch viel um.
“Noch nie ’n Rad besessen,” sagte Lotte, “aber wenn ich irgendwo im fünften Stock wohnen würde, wollte ich auch keins, würde lieber den Bus nehmen.”
“Ich glaube, die meisten stammen vom Land in Ostpreussen oder Westpreussen. Die hatten ihre Pferde oder Traktoren,” sagte Lilly. “Wie kommsten darauf?” fragte Emma.
“Ach, ich war lange bei meiner Grossmutter auf ihrem Gut im Osten. Ich bin auch mal in Königsberg zur Schule gegangen,” sagte Lilly. “Ich kenne den Dialekt.”
Sie assen ihr Frühstück, räumten den Gemeinschaftsraum auf und brachten Ordnung in die Küche.
Der Leutnant sass indessen erwartungsvoll am Telefon und empfing Melder per Krad. Er teilte den Mädeln mit, dass keine weitere Hilfe zu erwarten sei.
Der ‘Versorgungsdampfer’ war kaum da, als die Sirene los ging, und der Fahrer trottete hinter den Mädeln in den langen Splittergraben.
“Die Amis,” sagte er, mit dem Gesicht gen Himmel, “fliegen die Tagesangriffe, mit den fliegenden Festungen, über 10,000 Meter hoch, da kannste die FLAK gleich vergessen. Die Tommies machen die Nachtschicht. Die fliegen tiefer. Das war ’ne üppige FLAK Stellung hier. Drei Batterien mit sechzehn 8.8 Geschützen, all die Wälle hier. Da war’n se drin. Aber die haben die Schule geschlossen und die schweren Haubitzen für die Front abmontiert.”
“Sie meinen das war ’ne FLAK Helfer Schule hier? Was haben die gelernt?”
“Ganz normales Schulpensum am Tage. Nachts haben die die Geschütze mit bedient. Oder die Scheinwerfer. Riesendinger.”
“Ach so.” Sie drängten aus dem Unterstand, sobald die Entwarnung kam, der Himmel schwarz-grau vom Rauch über der Stadt.
Motzes Namenlose hatten sehr rasch an Identität gewonnen die nicht zu übersehen war.
Die Berliner Gruppe redete mehr und lauter. Gustav, Rainer, Christian und Tom wurden vermutlich sogar vom Feind gehört, von Motz und Ede ganz zu schweigen. Ulli war einer der wenigen Ausnahmen unter den Berlinern.
Unter den Ostflüchtlingen – Millionen sollten unterwegs nach Westen sein – gab es zehntausende von einsamen, traumatisierten Jugendlichen, die laut Rotes Kreuz- Suchdienst von ihren Angehörigen getrennt waren. Vorübergehend in Auffanglagern versorgt, wurden die Jüngsten bald nach Westen abgeschoben, aber die Vierzehn- bis Sechzehnjährigen zum Noteinsatz herangezogen, da die Hauptstadt längst kein Hilfspersonal mehr hatte. Diese stillen Jungen auf dem Stolper Feld waren bald bekannte Gesichter, aber niemand merkte sich ihre Namen, und sie sprachen auch kaum untereinander.
“Bernd?” rief Lotte wohl aus der Küche auf der Suche nach kräftigen Armen, und,
“Henning,” kam die geduldige Antwort, so als ob man gar nicht erwartete, sich von den übrigen zu unterscheiden, blond und stämmig die meisten. Hennings Blick zum Beispiel schweifte stets über den Holzboden, wenn er anderen zuhörte. Dann holte er tief Luft, wie um zu antworten, aber meistens kam dann doch nichts. Ein Junge ohne Worte.
“Ich weiss nie so recht, was in ihnen vorgeht,” sagte Anna.
“Sie haben halt Heimweh nach ihrem Hof, ihrem Land,” sagte Lilly. “Sie haben so viel durchgemacht, so viel Schreckliches mit angesehen, ihr Zuhause und alles andere vielleicht für immer verloren. Wie können sie darüber reden? Das vermitteln? Und ihre Angehörigen vermisst.”
“Ja, so sehen sie aus, wie entrechtete, entwurzelte Kinder. Man möchte sie immer in den Arm nehmen.”
“Aber ist dir dieser Axel aufgefallen?” sagte Lilly. “Ich wette, er ist aus Königsberg. Ich kenne doch den Klang.”
“Ja, ich weiss wen du meinst. Gescheiter Kerl,” sagte Anna.
Der Tagesplan befand sich am schwarzen Brett.
7.00 Uhr Wecken
7.50 Fahnenappell
8.00 Frühstück
8.30 Abrücken
17.30 Rückkehr in Baracken
18.30 Abendessen
19.30 Waffenappell/ Schulung
21.00 Freizeit
22.00 Zapfenstreich
Das Leben der Jungen hatte neue Formen angenommen, nicht nach ihrem Geschmack, aber kaum einer war daran gewöhnt über sich zu bestimmen. Der strenge Tagesplan wurde binnen einer Woche zur Routine.
Den Mädeln hatte der Feldwebel einen Plan ihrer Pflichten überreicht, aber da er ihnen unpraktisch vorkam, hatten sie ihn stillschweigend verändert.
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