Am Vortage hatten die Schwestern ihre Mutter verloren. Von ihrem Portrait an der Wand sah sie nun der Abwicklung zu. Von Kisten und Kartons umringt, und von Stühlen voller massgeschneiderter alter Kleider, (auch Ausverkaufskitteln), mühen sich die Töchter einen ersten Überblick zu gewinnen. Sie finden nie getragene Schuhe, unausgepackte Geschenke, sorgsam verwahrt, Zeugen eines Lebens, das es zu sortieren, ordnen und abzulegen gilt.
Welche unter diesen unzähligen Dingen eigneten sich als Vermächtnis für die Enkel und Urenkel? Wohin damit inzwischen? Welche Andenken würde die Tochter in Kanada ihren Kindern mitbringen? Zur Erinnerung an die Grossmutter aus den Fotoalben, einem Familienvideo, Erinnerung auch an Telefongespräche an den Feiertagen und an frühe Besuche beiderseits des Atlantik.
Der Hausmeister steht wieder in der Tür, wartet auf weitere Kisten und Kartons zum Transport hinunter an den Wagen. Sechs volle Müllsäcke sind bereits im Korridor aufgereiht. Am nächsten Mittag kommen die Maler, die Mutters Tapete entfernen werden, und auch den vergilbten Poster in der Fensterecke. Das Handy meldet sich, aber wo steckt es unter all den Bergen?
Die Schwester, die an Mutters Bett gebetet hat, erscheint mit einem Kaffeetablett und hausgebackenen Keksen.
Die Frauen bedanken sich herzlich, greifen nach Tassen, und das Tablett steht nun am Fussende des leeren Bettes. Sie vermeiden Augenkontakt. Sie müssen hier durch, jetzt, da es vorbei ist, und weiter nichts.
“Ich war übrigens sehr angerührt von der Messe gestern Abend. Die vielen Mitbewohner im Rollstuhl, und einer sogar auf Krücken, der sich in die Kapelle gemüht hat. Und ist der Priester nicht ein ganzer Schatz? Ein Trostspender, echt. Dabei ist Mutti nicht mal katholisch, was er genau weiss.”
“Habt ihr ihn übrigens abfahren sehen?” fragt Nadja, “den Priester? Auf seiner Harley?”
Die Schwestern nicken, lachen ein wenig.
“Er war Bundeswehrkaplan bis letztes Jahr. Und es hat ihn überhaupt nicht gestört, dass sie eingeäschert werden wollte. Könnte sich nicht vorstellen, dass Gott sich daran stossen würde,” sagt Anna.
“Mutti trug wesentlich zur Bereicherung der Heimkultur bei, meinte der Leiter. Er hat ihr Gedicht zu seinem letzten Geburtstag aufbewahrt,” sagt Anna.
“Ach, hat sie immer noch Verse geschrieben,” wundert sich Korinna. “Eigentlich toll. Mit vierundneunzig.”
Der Hausmeister steht wieder in der Tür und blickt auf die Uhr. Er habe jetzt Feierabend. Sie versichern ihm, sie würden gleich frühmorgens zurück sein.
Heute haben sie zu einem feierlichen Abendessen geladen, mit Bruder und Schwägerinnen, Nichten und Neffen. Sie wollen Omas volles langes Leben würdigen und auch nochmal an ihre erstaunliche Ansprache an ihrem neunzigsten Geburtstag erinnern. Sie werden miteinander lachen und weinen, sich umarmen.
“Ich kümmere mich um diese Zeitungsausschnitte und Papiere,” sagt Anna jetzt und schiebt ihren Stuhl ans Fenster. Schuldbewusst legt sie vorsorglich einen neuen Müllsack bereit. Er füllt sich rasch mit alten Postwurfsendungen, Werbung aller Art, Briefe an die Redaktionen diverser Illustrierten, ausgeschnittene Artikel, nie an die notierten Empfänger weiterbefördert. Hier sind vier Umschläge mit den Namen ihrer Kinder, das gleiche Gedicht enthaltend.
An Sich, von Paul Flemming (1609 – 1640)
Sey dennoch unverzagt! Gieb dennoch unverloren! 
Weich keinem Glücke nicht, steh höher als der Neid, 
vergnüge dich an dir und acht es für kein Leid, 
Hat sich gleich wider dich Glück, Ort und Zeit verschworen.
Was dich betrübt und labt, halt alles für erkoren, 
Nimm dein Verhängnis an. Lass alles unbereut. 
Tu was gethan muss sein, und eh man dir's gebeut.
“Ach, seht mal, hier hatte sie ein Heft mit Notizen über Foffies Studienjahr 1968 angelegt,” sagt Anna. “Wir wollen's ihm mitbringen. Wahrscheinlich neueste Katastrophennachrichten über Proteste, Demonstrationen, Ausnahmesitzungen, oh, und hier ist ein Umschlag mit Artikeln von dir, Korinna.”
Sie sortiert Papiere, Briefschaften und Fotos in Aktendeckel, die sie der Mutter vor grauen Jahren geschickt hatte, zum Organisieren des Papierwustes. Heute sind sie sehr willkommen.
“Ach, was haben wir denn hier — ein Buch ihrer Gurus über Vorschulerziehung,” sagt Korinna. “Mit Eselsohren und Randgekritzel und viel Unterstreichungen zum Thema ‘kindliche Eifersucht.’”
“So,was haben die beiden Weisen zum Thema Eifersucht zu sagen?” fragt Anna.
“Oh je, ‘ne Menge,” sagt Korinna. “Seitenweise, und wieder mit Notizen in Muttis winziger Handschrift.”
“Du warst damals noch ein Säugling, Nadja. Ich muss ein Biest gewesen sein. Arme Mutti,” sagt Anna.
“Lasst uns das aufheben. Leg's hier rüber,” sagt Korinna, und schiebt einen kleinen Karton heran.
“Ich frage mich, wann sie gemerkt haben wird, dass ihre Vorstellungen von Kindererziehung und Säuglingspflege auf den Kopf gestellt würden,” sagt Nadja. “Es muss sie masslos mitgenommen haben, als Fachkraft und als Mutter.”
“Im Sommer 1933 genau,” sagt Anna. “Sie hat mir mal erzählt, dass zu Korinnas Geburt in den Kliniken schon Informationsblätter ausgegeben wurden in punkto moderne Säuglingspflege. Die Babys hatten im Bettchen zu liegen oder im Wagen, ausser zum Füttern, Baden und Windeln. Sie sollten nicht gleich hochgenommen werden, wenn sie weinten, und alles nach strengstem Zeitplan.” Nadja blättert in einem alten Fotoalbum.
“Hier laufen wir Rollschuh vor dem Haus in Berlin. Ist das hier Lilly? Nein, Kanada! Was wohl aus ihnen geworden ist? Ich werde nie vergessen, wie wir sie zum erstenmal gesehen haben. Sie und ihren Bruder Dirk, im Sommer 1939.” “Liebe Nachbarn,” sagt Korinna.
“Das letzte Mal sind wir uns in der S-Bahn in die Arme gelaufen, am Stettiner Bahnhof, glaube ich. Auf dem Rückweg aus Hildesheim im Herbst 1945. Die Züge gingen nur alle Stunde oder so,” sagt Anna.
